„Einheit ist immer ein Nullsummenspiel“

■ Eine Theorie zum 3. Oktober / Interview mit dem Bremer Informatik-Professor Klaus Haefner

Klaus Haefner (54) ist Professor für angewandte Informatik in Bremen. Er war enger Berater des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth. 1984 veröffentlichte er sein Plädoyer „für eine human computerisierte Gesellschaft“. Aus aktuellem Anlaß befragte ihn die taz nach einer Theorie der „Einheit“.

taz: Was ist aus Sicht des Informatikers eigentlich Einheit?

Klaus Haefner: Einheit ist der Versuch, verschiedene Teilsysteme zu einer Gesamtheit zusammenzuführen und damit Prinzipien, Regeln, Interessen, die früher in verschiedenen Bereichen verteilt waren, gemeinsam zu organisieren.

Sie haben gesagt: der Versuch. Mit dem Versuch ist Einheit schon hergestellt?

Man ist sich heute einigermaßen einig, daß es nicht möglich ist, komplexe Systeme einfach zusammenzuführen. Alle Vorstellungen, daß dies im Handstreich möglich wäre, sind völlig unrealistisch. Man kann es nur schrittweise versuchen.

Wenn man zwei komplexe Systeme vereinigen will, ist dann das Ergebnis noch komplexer als die beiden Teile? Oder heben sich womöglich bestimmte Komplexitäten gegeneinander auf?

Sicher kriegen Sie durch Zuwachs der Größe eines Systems immer eine höhere Ebene an Komplexität. Und wenn Sie zwei sehr unterschiedliche Systeme vereinigen, dann bekommen Sie ein besonders hohes Maß an neuer Komplexität, Sie bekommen Widersprüche, und es ist klar, daß das Regelwerk des Gesamtsystems ein anderes sein wird als das Regelwerk eines der beiden ursprünglichen Systeme.

Kommt es nicht vor, daß dabei nicht nur ein höherer Grad an Komplexität erreicht wird, sondern qualitativ etwas ganz anderes entsteht?

Es ist die Frage, ob es bei der Inkompatibilität, bei dem Sich- nicht-vertragen der unterschiedlichen Strukturen zu neuen Unstetigkeiten, neuen Sprüngen, zu Bifokationen kommt. Dies ist durchaus wahrscheinlich.

Läßt es sich vorhesehen, an welchen Punkten diese Komplexitäten höherer Potenz entstehen?

Sicher können Sie auf einer technischen Ebene durch eine Systemanalyse der beiden zu vereinigenden Teile die Konflikte festmachen, und Sie können dann neue Schnittstellen schreiben oder durch Hardware realisieren, indem Sie die Kommunikation dieser beiden Seiten ermöglichen und damit das Gesamtsystem technisch organisieren.

Gibt es ein informationstechnologisches Kriterium, zu entscheiden, wo neue Einheiten Sinn haben und wo nicht?

Das informationstechnische Interesse an großen Strukturen wird in der Regel getrieben aus Synergieeffekten. Wenn es gelingt, unterschiedliche Systeme so zusammenzufügen, daß die Einheit dann besser funktioniert als die Teilkomponenten, dann tun wir das. Wenn wir aber feststellen, daß die gewordenen Einheiten an sich gut funktionieren, dann tun wir das eher nicht, dann lassen wir sie getrennt.

Es zeigt sich aber, daß gerade der Transport von Information zwischen Systemen immer notwendiger wird. Und deswegen ist es eigentlich ein genereller Trend in den ganzen großen Systemen dieser Welt sich zu vereinheitlichen, sich zu standardisieren, zusammenzuführen, eine Einheit zu bilden.

Gibt es bei den Synergiegewinnen großer Systeme nicht auch Verlierer?

Oh natürlich, das ist ja immer ein Nullsummenspiel. Sie haben immer die Situation bei der Vereinigung größerer Systeme, daß die individuellen Komponenten, die in das System aufgesogen werden, ihre Autonomie, ihre Funktion verlieren und daß, wenn Sie es ökonomisch wenden, das natürlich auch Kosten verursacht, die irgendjemand tragen muß.

Der Witz ist dann immer, die Kosten so geschickt wie irgend möglich zu verteilen. Aber zunächst kommt es darauf an, möglichst wenig Gesamtkosten zu haben.

Wo liegt das Machtzentrum dieser synergetischen Systeme?

Die großen synergetischen Systeme, die wir seit Milliarden Jahren auf der Welt haben — die Zelle, der einfache Organismus, soziale Systeme — sind dadurch ausgezeichnet, daß sie enorme Kommunikationsdichten haben und daß es nicht ganz leicht ist, herauszufinden, wer eigentlich das Sagen hat. Es ist eine komplexe Mischung aus einer zentralen Zielvorgabe, aus zentralen Interessen, zentralen Steuerungsmechanismen und dahinter stehenden rückgekoppelten Systemen, die Synergie erst möglich machen.

Auch synergetische Systeme haben ihre Zielvorgabe?

Ja, aber man darf sich das nicht so primitiv vorstellen. Komplexe synergetische Systeme sind in der Lage, sich auf viele unterschiedliche Ziele einzustellen. Und das läßt sich mit linearer Optimierung nicht mehr machen.

Ein Theologe würde vom Thema Einheit nicht auf Synergie und komplexe Systeme kommen, sondern im Gegenteil auf Ursprung und Konzentration.

Natürlich ist Einheit für den Theologen der Versuch, konzeptionell zu einer Einheit zu kommen, zu einem Verständnis, zu einer Reflexion. Aber die thologische Einheit hat nie stattgefunden, sondern die Theologie lebt eigentlich davon, daß sie eine unter vielen Theologien ist.

Die göttliche Einheit ist also auch nur eine Art verkapptes synergetisches System?

Ein Christ, der sich mit den naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen auseinandergesetzt hat, würde tendentiell die Entwicklung der Welt als ein langsames Zugehen auf einen göttlichen Endpunkt sehen. In diesem Sinne ist Einheit der Welt, Einheit der Christen, Einheit der Religionen ein Ziel der Theologie — durch Konsensbildung über den Weg zu Gott. Fragen: Dirk Asendorpf