7 vor 12: Gründung von »Utopia«

■ Ausgewählte Vorschläge, den »Tag der deutschen Gemeinheit« am 2.und 3.Oktober zu verbringen/ Aus dem offiziellen und dem alternativen Programm: Theater, Talkshow oder Trommelzug

Berlin. Die einen haben einen dreitägigen Aufenthalt in Paris gebucht. Die zweiten haben sich gar die ganze Woche freigenommen, um gen Westen zu fliehen. Die dritten wollen den heutigen und morgigen Tag zu Hause verbringen, die Bettdecke überm Kopf. Die Fluchtbewegung ist groß und ist verständlich, es gibt wohl niemand im linken und grünalternativen Umfeld, für den der proklamierte »Tag der Freude« nicht ein Tag des Unbehagens und der Angst ist. Aber die muß man nicht für sich allein zelebrieren. Es gibt durchaus Aktionen oder Veranstaltungen, die die Teilnahme zu lohnen scheinen. Die taz nennt hier eine Auswahl.

Für alle, denen die Demonstration unter dem Motto »Deutschland, halt's Maul« morgen 14 Uhr ab Oranienplatz zu martialisch ist — zu ihr rufen Autonome, Jusos, die AL-nahe Alternative Jugendorganisation und andere Gruppen auf —, für alle, die der »Friede-Freude-Eierkuchen- Bierfahnen-Feier-Hysterie« lieber Satire und Kreativität entgegensetzen wollen, sei der »deutschliche Zug« empfohlen. Angeführt von Trommlern aus Berliner Samba- und Percussiongruppen, soll er heute pünktlich um 21.30 Uhr am Lenné-/ Kubat-Dreieck am Potsdamer Platz Richtung Osten starten. Für den Umzug, der unter dem Motto »Tag der deutschen Gemeinheit« steht, hat das zusammen mit anderen Gruppen dazu aufrufende »Büro für ungewöhnliche Maßnahmen« extra eine neue Hymne verfaßt: »Der Tag des Winkens mit den Zaunpfählen ist da. Ganz Deutschland platzt vor Freude. Europa lächelt vor Angst...«

Um 23.53 Uhr will man dann am Kollwitzplatz auf dem Prenzlauer Berg eintreffen, um unter der Regie der Ostberliner Gruppen »Niemandsland e.V.« und »Inart« die »Autonome Republik Utopia« auszurufen. Davor und danach spielen Rio Reiser, Herrmann Nehring und 2000 DS auf. Denn nach dem staatlich verordneten halbstündigen Feuerwerk über Berlin soll »ab 0.33 Uhr zurückgefeiert« werden. Arnulf Rating von den Drei Tornados, Der wahre Heino, Volkmar Staub und andere werden auftreten.

Schon vorher, von 17 bis 23 Uhr, gibt's im »Prater« in der Kastanienallee Kabarett zu besichtigen: »Allerletztes aus der Da Da eR«. Auch im »Babylon« am Rosa-Luxemburg- Platz wird von 20 bis 23 Uhr der Abgesang »Born in DDR« angestimmt. Rio Reiser, der König von Deutschland, wird sich auch morgen von 11 bis 15 Uhr zusammen mit Wolf Biermann noch einmal die Ehre beim Staatsakt zur Gründung der »Autonomen Republik Utopia« geben — auf dem Niemandsland und ehemaligen Todesstreifen gegenüber dem Reichstag, Eingang Reinhardstraße.

Aber auch im gigantomanischen offiziellen Festprogramm — auf insgesamt 16 Bühnen werden 1.769 Künstler rund 154 Stunden Live- Programm anbieten — gibt es ein paar Bonbönchen. Erwähnt sei hier das Streitgespräch zwischen den Theaterkünstlern Frank Castorf, Heiner Müller und Volker Braun heute ab 20 Uhr im Maxim-Gorki- Theater, das Konzert von Wolf Biermann zur gleichen Zeit im Audimax der Humboldt-Universität oder die Hölderlin-Rezitation morgen, 11 Uhr, im Deutschen Theater unter dem passenden Titel »Ach! der Menge gefällt, was auf dem Marktplatz taugt«. Zur gleichen Zeit leitet Lea Rosh im Senatssaal der Humboldt-Uni eine Diskussion zur Frage »War es denn wirklich eine Revolution?«, an der unter anderem Jürgen Fuchs, Rolf Heinrich und Jens Reich teilnehmen.

Man kann sich morgen aber auch von 10 bis 20 Uhr einen Film nach dem anderen reinziehen: Im Kinosaal der Humboldt-Uni und in der Urania werden historische Streifen aus Berlin gezeigt und im Deutschen Historischen Museums im Zeughaus Dokumentarfilme vom Herbst 1989.

Ebenfalls morgen um 14 Uhr und 16.30 Uhr ziehen in der »Distel« am Bahnhof Friedrichstraße »Deutsche Läster-Zungen über Deutschland, eilig Vaterland« her. Um 18 Uhr treibt das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin auf dem Rosa-Luxemburg-Platz seinen Spott mit FDJ- Liedern. Und um 19 Uhr zeigt das Staatsschauspiel Dresden sein mit Texten von Becher, Loest und Havemann angereichertes Programm »Durch die Erde ein Riß«.

Auch im Abendprogramm läßt sich noch Interessantes finden. Im Maxim-Gorki-Theater wird um 19 Uhr »Mein Kampf« von George Tabori gespielt. Heiner Müller liest um 19.30 Uhr im Autorenkollegium. Der Schlußakkord wird ab 20.30 Uhr in der Gethsemanekirche mit Benjamin Brittens »War Requiem« angeschlagen — ein eindrückliches Antikriegsopus. Karten für fünf Mark sind im Infoladen der Berliner Festspiele erhältlich.

Natürlich sei mit diesen Empfehlungen niemand davon abgehalten, sich das Programm auf dem Alex und den Bühnen drumrum anzuschauen: alliierte und deutsche Blasmusik, vielevielefidel Rundfunktanzorchester und Dauerberieselung aus Unter den Linden installierten Lautsprechern als Aggressionsdämpfungsmaßnahme. Der angebliche Programmhöhepunkt auf dem Alex findet heute gegen 23 Uhr unter dem Namen Chris de Burgh statt.

Wer die um 0.00 Uhr folgende Nationalhymne konterkarieren möchte, kann um Mitternacht seine Boxen ins Fenster stellen. Kassetten dafür sind u.a. im »KOB« in der Potsdamer Str. 156 erhältlich.

Und schließlich dann das Feuerwerk als nationaler Vereinigungsorgasmus. In großer Freude über den neuen Markt wird es gesponsert von: Daimler Benz AG, AEG, Krone AG, Radio Hundert,6, Europacenter Hotel Palace, Grundkreditbank, Concert Concept, KaDeWe. usche