Schlaumeier und Massenmörder

■ Der Berliner Verlag edition tiamat präsentiert eine neue Krimireihe

Eines der erfrischendsten Ziele des Kriminalromans — und für die einschlägigen Schriftsteller offensichtlich das köstlichste — besteht darin, uns ein X für ein U vorzumachen. Wir Abhängige winden uns dann mit Vergnügen durch Täuschungsmanöver, zielsicher ausgelegte Fußangeln und heillos verstrickte Nebenhandlungen, und Legionen von Schriftstellern bedienen dieses perverse Gelüst seit Jahrzehnten mit mehr oder minder reinem Stoff, halten uns so lange wie möglich bei der falschen Stange und gehen dabei, wenn nötig, bis an die Schmerzgrenze, die dort liegt, wo wir uns dabei ertappen, daß wir beiläufig auf die letzte Seite schielen. (Schlaue Kriminalautoren und solche, die ihren Lesern nicht über den Weg trauen, füllen die letzten beiden Seiten aus diesem Grunde gerne mit belanglosem Blabla.)

Von einer Handvoll merkwürdig veranlagter Schriftsteller wurde unser legitimes Bedürfnis, an der Nase herumgeführt und anschließend mit derselben auf die Lösung gestoßen zu werden, allerdings schon immer hintertrieben. Sie präsentierten uns Verbrechen samt Täter und Motivation spätestens auf Seite 5 und ließen uns die restlichen 150 Seiten entweder dabei zusehen, wie die einschlägigen Strafverfolgungsbehörden oder deren private Pendants ihrer Arbeit nachgehen, oder servierten uns genüßlich Mörder, Diebe oder anderweitig straffällig gewordene Mitbürger, die in den mehr oder minder eng geknüpften Netzen ihrer Verfolger zappelten.

Seit einigen Jahren versucht nun eine Bande gewiefter Schlauberger aus Frankreich, die Schraube noch eine Windung tiefer einzudrehen und kommt uns regelmäßig mit durchtriebenen kriminalistischen Seifenopern, in denen wir des öfteren vor lauter pittoresken Waldlichtungen die verdächtigen Bäume aus dem Auge verlieren. Rowohlt, Rotbuch und andere mit Kriminalreihen ausgestattete Verlage beliefern uns seit zwei, drei Jahren mit Werken Jean- Bernard Pouys, Jean Vautrins, Daniel Pennacs und Didier Daeninckx. Zu den arrivierten Kriminalverlagen stößt jetzt der kleine Kreuzberger Verlag „edition tiamat“ — bisher mit handverlesenen kulturkritischen Spezereien und Surrealismus-Seitenflügel angenehm aufgefallen —, und zwar gleich mit einer ganzen Krimireihe. Der Name ist Programm: „Roman Noir“; und das Programm wartet mit beachtlichen Namen auf: Joseph Bialot, Edgar Box (ein kantiges Pseudonym des amerikanischen Altmeisters Gore Vidal), José Giovanni; dazu kommen ein paar Neulinge. Werbemäßig streckt man sich mit einem passenden Sartre-Zitat („Noch heute lese ich lieber den Roman Noir als Wittgenstein.“) an die intellektuelle Decke und zielt auf gehobene Kundschaft. Die gelieferte Ware allerdings ist sehr gut.

Da wäre zum Beispiel Fall 1, „Eine mörderische Drahtseiloper“ („Un violon pour Mozart“, 1989) von Joseph Bialot, der schon vor sieben Jahren mit einer blutigen Mordserie in einem altjüngferlichen Pariser Damenkränzchen (Babel-Ville) sehr angenehm aufgefallen war. Bialot scheint einen Hang zum statistisch unwahrscheinlichsten aller Verbrechen, dem fortgesetzten Meuchelmord, zu haben, denn auch in der „Drahtseiloper“ fallen sie wie die Fliegen. Grob geschätzt ein Drittel der Bewohner eines Pariser Wohnhauses werden von einem, selbstverständlich rätselhaften, Serienmörder auf sehr unappetitliche Arten und Weisen dahingerafft. Geld scheint keine Rolle zu spielen, es geht um: ja, was nun eigentlich? Genau diese Frage läßt zweien der Restbewohner keine Ruhe, und sie begeben sich auf die Suche und damit, kriminaturgemäß, in Gefahr. Was und wie sie es herausfinden, hat Bialot zwar an allen nur erdenklichen Haaren herbeigezogen — ich sage nur: neonazistische Schlägertrupps, Eifersucht und Kunstfälscherbanden —, aber in die bewährt süffisante, mit den typisch französischen Einschüssen zur saumäßigen Lage der Nation verpackt, so daß man gerne auch noch den ach so bekannten korrupten französischen Schweinepolitiker in Kauf nimmt, um endlich diesem verdammten Massenmörder gegenübertreten zu dürfen. (Auf den letzten drei Seiten befindet sich übrigens Blabla.)

Ob im letzten Akt wirklich immer Blut fließt, sei dahingestellt; jedenfalls hat man sich bei tiamat für diese Behauptung Blaise Pascals als Titel für Tito Topins „Un Gros Besoin d‘Amour“ (1989) entschieden, was nicht ganz dem Verlauf der Geschichte entspricht — wird der kostbare Saft doch bereits auf Seite 18 literweise vergossen und auch im Anschluß nicht damit gespart, denn in Pariser Bars und Autosalons plazierte Bomben machen eben auch vor der menschlichen Außenhaut nicht halt. Hält man sich als Taschendieb dabei rein zufällig sowohl in der Nähe der hochgegangenen Kneipe als auch in Sichtweite zum zerplatzenden Renault-Schaufenster auf und nimmt anschließend auch noch zu allem Überfluß die Chance wahr, mitten in der entstehenden Panik die nebenan gelegene Bank auszurauben, wird man sich nicht wundern dürfen, wenn man zum einschlägig Verdächtigen abgestempelt wird. Robert Slowacki und sein Freund William geraten allerdings doch etwas ins Grübeln, als sie merken, mit welchem Aufgebot sie da konfrontiert werden (wobei William dabei weniger Aufmerksamkeit aufbringen kann, weil seine Freundin Sonja dabei ist, ihren ersten Sohn zur Welt zu bringen). Auch deshalb klauen die Dreieinhalb schnell noch einen BMW und flüchten zu Großmuttern aufs Dorf, was ihnen auch nicht viel weiterhilft: Kommissar Sepulchre und sein Faktotum Calvi lassen sich nicht übertölpeln — wenn man mal davon absieht, daß sie sich sowieso auf der völlig falschen Spur befinden. Das passiert in Tito Topins Roman einer ganzen Menge von Leuten, nur wir als voll aufgeklärte Leser dürfen ausnahmsweise mal über so gut wie alle Schachzüge der verschiedensten Kontrahenten Bescheid wissen. „Im letzten Akt fließt immer Blut“ ist ein Krimi über die Macht des Zufalls und jene grotesken Schlamassel, die er im Schlepptau führt, eine kriminalistische Variante, die Hitchcock — besonders in seinen letzten Filmen — sehr zu schätzen wußte. Gewinnen kann in solchen Geschichten eigentlich immer nur, wer wie Luftikus über die fehlenden Kanaldeckel hinwegstolpert oder dem Zufall schlichtweg die Existenz abspricht und weiterrackert. Und ohne Humor gibt's in solchen Fällen natürlich nicht mal den berühmten Blumentopf.

Beim dritten Band aus tiamats erster „Roman Noir“-Lieferung handelt es sich um eine Wiederauflage aus den fünfziger Jahren, die uns Rowohlt schon zweimal untergejubelt hatte. Gore Vidal, der sich ja zwischen Fernsehdrehbuch, historischem Roman und Trauerspiel kein literarisches Genre hat entgehen lassen, legte sich Anfang der fünfziger Jahre das Pseudonym Edgar Box zu und schrieb drei Kriminalromane um den Leichtfuß Peter Sargeant, der sich als freier Journalist und Werbeagent durchs Leben mogelt und nebenher den einen oder anderen Kriminalfall, sagen wir mal: einer Lösung zutreibt, ohne sich dabei allzuviel Spaß entgehen zu lassen. In „Tod in der fünften Position“ („Death in the Fifth Position“ 1952) treibt er sich bei einer russischen Ballettruppe herum, die in New York Station macht. Prompt wird ihr die Primaballerina weggemordet (Sturz aus zig Metern Höhe auf die Theaterbretter und das bei laufender Vorstellung!), und Peter muß sich mächtig ins Zeug legen, zumal seine gerade neugewonnene Liebschaft zu den Hauptverdächtigten gehört und die passenden Folgemorde nicht lange auf sich warten lassen. Vidal wirft das mit der gewohnten Leichtigkeit hin, ficht hier und da ein paar typische New Yorker Frotzeleien ein („Wenn es etwas gibt, was unsere großartige Zivilisation je zum Einsturz bringen wird, so ist es die Cocktailparty“) und läßt uns mit der Lösung wirklich bis ganz zum Schluß hängen.

Für die nächste Lieferung hat tiamat einen weiteren Peter Sargeant angekündigt, dazu José Giovannis Klassiker „Der zweite Atem“ aus den sechziger Jahren und einen preisgekrönten französischen Krimi von Michel Quint, in dem ein mysteriöser Fremder die Bar eines Küstendorfs betritt und sich schnurstracks in den Billardraum begibt. Genau wie wir's lieben. Günther Grosser

Joseph Bialot: „Eine mörderische Drahtseiloper“, 178 Seiten;

Tito Topin: „Im letzten Akt fließt immer Blut“, 195 Seiten;

Edgar Box: „Tod in der fünften Position“, 175 Seiten, für je 18 DM in der Reihe „Roman Noir“ bei edition tiamat, Berlin