TRANSNATIONALFEIERTAG VONMATHIASBRÖCKERS

Die „Unfähigkeit zu Trauern“ schien mir bis dato einen Spitzenplatz im Nullwörterbuch akademischen Prädikat-Unfugs inne zu haben — neuerdings bin ich, was die Plazierung angeht, etwas unsicher geworden. Dies liegt nicht daran, daß der Begriff aus der Mode gekommen wäre — im Duett mit der „Trauerarbeit“ zählt er nach wie vor zu den schweren Geschützen des kritischen Feuilletons — sondern vielmehr an einer Beobachtung, die als Beweis ex contrario gelten könnte: der sich im Zuge der deutschen Vereinigung unabweisbar abzeichnenden Unfähigkeit zu Feiern. Über den morgigen Höhepunkt dieser Impotenz muß niemand einen Witz machen — es darf direkt gelacht werden. Aber keiner wird dieses Übermaß unfreiwilliger Komik zum Anlaß nehmen, nun endlich wirklich komisch zu werden — nein, nein, es ist alles abzusehen:

die dunklen Anzüge, die jauchzenden Streichquartette, die frohen Fest-Reden, von dem

vom Windhauch der Geschichte verzückten Kohl über den „bei aller Freude“ zur Verantwortung mahnenden Weizsäcker zur Träne im Knopfloch von Willy. Und wehe jemand lacht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.

Das heißt, das tut es ja sowieso schon, und deshalb existiert sie vielleicht doch nicht, diese Unfähigkeit zu Feiern. Was fehlt, ist schlicht der Grund zum Feiern. In der Tat scheint ja jeder verregnete Rosenmontag geradezu ein Ausbund kollektiver Ekstase verglichen mit diesem Nationalfeiertag. Die Stimmung draußen im Lande angesichts des großen Ereignisses — der Vereinigung — läßt sich grob in fünf Worten beschreiben: „Na endlich!“ (Ost) und „Auch das noch!“ (West) — wahrlich keine Vibrationen, die gesteigertes Party-Fieber aufkommen lassen. Eher das Gefühl eines nationalen Katerfrühstücks, bei dem der dicke Kopf noch zusätzlich durch den Schunkelohrwurm „Wer soll das bezaaahlen — wer hat das bestellt?“ geplagt wird.

Wie kommt's, daß keine wirkliche Freude aufkommen will, zu diesem größten Fest der Deutschen seit Ende des Kriegs? Ich glaube nicht, daß nur das Geld, die berühmten „Kosten der Vereinigung“, der Grund sind. Denn Geld geben wir aus für den horrendesten Schwachsinn — Tischstaubsauger, 100-PS-Autos, Tiefflieger —, wenn er nur im entferntesten einen Nutzen oder Lust verspricht, jammert kein Mensch über Kosten. Wenn also in Sachen Vereinigung geknausert wird, muß es wohl daran liegen, daß man sich von ihr weder irgendeine Nützlichkeit noch einen Hauch von Lustgewinn verspricht. Sollten etwa Ehre, Vaterland & Co., die „Jiu- Jitsu-Begriffe des Nationalismus“ (Benn), endgültig ausgedient haben, geht „Nation“ der Nation mittlerweile am sprichwörtlichen Arsch vorbei?

Die Unfähigkeit zu Feiern deutet in diese Richtung: als Sinnstiftung ist das Nationale auf dem absteigenden Ast und die Erweiterung solch überlebter Institutionen bietet ebensowenig Grund zur Freude wie, sagen wir, der Ausbau eines Kohlebergwerks. Der imperialistische Wettstreit großer Primaten-Blöcke hat in den letzten hundert Jahren der Evolution für einen riesigen Schub technologischer Entdeckungen gesorgt — Funk, Radar, Raketen, Flugzeuge, Kernspaltung, synthetische Chemie, Gen-Technik, Computer — der Krieg der Nationen war der Vater all dieser Dinge, selbst wenn sie mittlerweile selbstverständlich zum Alltag der konsumierenden Mittelklassen gehören. Gegen Ende dieses Jahrhunderts zeichnet sich mit dem Auflösen der Machtblöcke ein Ende des durch territoriale Eifersucht vorangetriebenen technologischen Wettbewerbs ab — die politische Bedeutung des Kriegs geht zurück und damit die Notwendigkeit zentralisierter, uniformierter, durch ein Feindbild zusammengeschweißter Nationen. (Auch in der aktuellen Golfkrise geht es ja nur vordergründig um territoriale Kämpfe, der eigentliche Knackpunkt ist, daß Saddam die liebsten Kinder der konsumierenden Mittelklassen — die Audis, Mercedes, Fords und Ladas — als Geisel genommen hat.)

Gleichzeitig stellt sich im Zuge der ökologischen Krise heraus, daß die von der Säugetier- Rivalität vorangetriebenen „Errungenschaften der Technik“ auf nationaler Ebene überhaupt nicht mehr handhabbar sind, sie erfordern internationale, globale Lösungen. Das „Survival of the Fittest“ (Darwin) muß in „Gegenseitige Hilfe“ (Kropotkin) übergehen, oder der Planet geht unter. Dank seiner kindisch stolzen Nationen, die ihre Existenz feiern, statt ihre Abschaffung, die Auflösung in Folklore voranzutreiben. Die deutsche Unfähigkeit zu Feiern erweist sich auf diesem Hintergrund als evolutionäre Weisheit — und der notwendigen „Feierarbeit“ wird es obliegen, daß der wahre Jubel überall künftig nur noch an einem Datum ausbricht: dem planetarischen Transnationalfeiertag.

ÜBERDIEUNFÄHIGKEITZUFEIERN