Nur krumme Wege führen zum Ziel

■ Georg Simmel im Junius-Verlag

Die Sätze der Philosophen, sagt Wittgenstein, sind Leitern, die man wegwerfen muß, wenn man auf ihnen hinaufgeklettert ist. Die Kletterei ist oft mühsam; deshalb stellen die Philosophieprofessoren Hilfsleitern bereit, von denen sich viele Kletterer versprechen, sie kämen damit schneller auf den ungehobelten Konstruktionen der Philosphen voran. Eine Rechnung, die selten aufgeht: Meist führten die vermeintlichen Hilfen nur von den krummen Wegen ab, die zum Ziel führen, und aus den gelehrigen Schülern werden wieder nur Philosophieprofessoren — und keine Philosophen.

Der Hamburger Junius-Verlag bietet eine ganze Reihe von Hilsfleitern an; kleine Einführungsbändchen ins Werk eines jeden Autors, erschwinglich auch für arme Philosophiestudenten. In diesem Herbst werden Simone Weil, Hannah Arendt und Karl-Otto Apel neu ins Repertoire aufgenommen — und Georg Simmel, der Soziologe und Philosoph der Jahrhundertwende, der in den letzten Jahren von einem beinah vergessenen zu einem Modeautor geworden ist. Das war er schon zu Lebzeiten: ein akademischer Außenseiter an der Berliner Universität, dessen Vorlesungen und Aufsätze über den Pessimismus, Geschlechterverhältnisse, über Mode und Abenteuer, aber auch über „klassische“ Themen der Philosophie ein großes öffentliches Echo fanden. Philosophiehistorisch bedeutsam ist Simmel nicht nur als einer der Begründer der modernen Soziologie, sondern auch als Ausgangspunkt der großen antisystematischen Tradition in der jüdisch-deutschen Philosophie dieses Jahrhunderts. Ernst Bloch, Georg Lukács und Siegfried Kracauer haben die Nähe Simmels gesucht, ehe sie sich philosophisch selbständig machten, und noch für die Jüngeren, Adorno und Benjamin, war er ein wichtiger Anreger. Der Suhrkamp Verlag, der diese Tradition vermarktet, hat inzwischen mit der Edition einer Simmel-Gesamtausgabe begonnen. Junius will gleich doppelt von der Simmel-Konjunktur profitieren und bringt neben dem Einführungsbändchen auch noch eine Essaysammlung mit Texten Simmels heraus.

Werner Jungs Bändchen über Simmel ist brauchbar, es liest sich wie das Manuskript einer sehr guten Einführungsvorlesung. Grundmotive Simmels, die wichtigsten Entwicklungsetappen, auch einige ungelöste Probleme seiner Philosophie kommen klar heraus; das Buch schafft einen Überblick, der sicher hilft, sich in dem ausladenden und disparaten Werk Simmels auch als Anfänger zurechtzufinden.

Daß die problematischen Aspekte einer Theorie in einer so knappen Einführung nicht ausdiskutiert werden können, versteht sich. Aber stellenweise ist sie vielleicht doch ein wenig zu glatt geraten; zum Beispiel in dem Kapitel über Simmels 1900 erschienene Philosophie des Geldes. Jung zitiert Äußerungen Simmels und zeitgenössische Kritiken an dem Buch, aus denen klar hervorgeht, daß das Geld darin als Symbol eines „schlechthin umfassenden metaphysischen Prinzips“ gedeutet wird. Das ist ein befremdlicher Gedanke. Aber es ist nun einmal Simmels zentrale Intention gewesen, eine Philosophie des Geldes vorzulegen, wobei Philosophie im emphatischen Sinne zu verstehen ist: als Metaphysik. Der Frage nach der Motivation eines solchen Ansatzes weicht Jung mit dem Hinweis auf die unbestreitbaren zeitdiagnostischen und soziologischen Qualitäten des Buches aus. Die springen nun sowieso ins Auge; wichtiger wäre es da doch gewesen, die wirklich befremdlichen, verwirrenden Denkmotive festzuhalten und dazu Hilfestellungen anzubieten. Warum liest jemand so ein Einführungsbändchen, wenn nicht, um eben das besser zu verstehen, was ihm nicht unmittelbar einleuchtet?

Das Bild, das Jung von Simmel vermittelt, ist das eines ungeheuer ideenreichen, aber ziemlich zerstreuten Philosophen. Jung macht sich nicht die Mühe, nach Motiven für die Akzentverschiebungen in Simmels Schriften zu forschen. Wieso verlieren der Pragmatiker und der Soziologe Simmel nach 1900 gegenüber dem Metaphysiker, dem Lebensphilosophen immer mehr an Boden? Karl Mannheim, ebenfalls ein Schüler Simmels, hat zumindest einen aphoristischen Fingerzeig auf die Triebfeder von Simmels Denken gegeben; in seinem Nachruf heißt es: „Hinter jedem seiner Sätze verbarg er Stücke einer neuen Metaphysik, aber um diese niederschreiben zu können, hätte er auch an sie glauben müssen.“

Die von Werner Jung herausgegebene Sammlung von Simmel-Texten trägt den Titel Vom Wesen der Moderne und provoziert dadurch die Erwartung, hier werde in Gestalt einer Anthologie ein historischer Beitrag zur Postmodernediskussion vorgelegt. Diese Erwartung wird herb enttäuscht. Die wichtigsten und prägnantesten Aufsätze Simmels zu diesem Thema finden sich in den vier Aufsatzsammlungen, die schon Mitte der achtziger Jahre bei Wagenbach und Suhrkamp erschienen sind. Unverzichtbare Beiträge zur Theorie der Moderne sind vor allem kultursoziologische Studien wie Das Geld in der modernen Kultur oder Die Großstädte und das Geistesleben, aber Jungs Auswahl enthüllt keinen einzigen Aufsatz mit soziologischer Ausrichtung. Er scheint selber kein rechtes Vertrauen in den Wert des Materials gehabt zu haben, das ihm andere Herausgeber zur Veröffentlichung übriggelassen haben. Der Titel Vom Wesen der Moderne zitiert einen Essay über Rodin, der in dieser Sammlung gar nicht enthalten ist. In seinem Nachwort bezieht sich Jung fast ausschließlich auf anderswo greifbare Texte. Kein Wort über die wahren Hintergründe der Textzusammenstellung, kein Wort über den Stellenwert der neu abgedruckten Aufsätze.

Der Etikettenschwindel ist umso ärgerlicher, als er nicht notwendig gewesen wäre. Tatsächlich zeigt die Sammlung einige neue Facetten Simmels, etwa in den Aufsätzen zum Pessimismus und über Stefan George; oder in den drei ästhetischen Analysen von Stadttopographien, die zum Vergleich mit den urbanen Denkbildern von Kracauer, Benjamin und Bloch herausfordern. Keiner der Texte ist zweitklassig und ganz unbedeutend, aber sie sind eben doch zweitrangig im Vergleich mit dem meisten, was die älteren Sammlungen enthalten. Vom Wesen der Moderne ergänzt sie — als Einstieg ins Studium Simmels, gar in seine Theorie der Moderne, ist der Band wenig geeignet.

Alles Leitern, wie gesagt, die nur nützlich sind, wenn man sie anschließend wegwirft. So haben sich auch die bedeutenden Schüler Simmels verhalten, die ihn so gut wie nie zitieren. Simmel selber hat sich als Epigone eingeschätzt; aber anstatt in dumpfer Anbetung der großen Denker zu verharren, hat er die Chance des Epigonentums genutzt. In Anbetracht seiner Unfähigkeit, die Weltanschauungen Kants und Goethes zu vermitteln, zwischen denen er sich nicht entscheiden konnte, spricht er einmal von der „Gunst, die die Natur der Sache den Epigonen gewährt: daß sie, wenn ihnen die Größe der Einseitigkeit mangelt, dafür der Einseitigkeit der Größe entgehen“. Michael Bienert

Werner Jung: „Georg Simmel zur Einführung“, 160 S., 16,80 DM.

Georg Simmel: „Vom Wesen der Moderne. Essays zur Philosophie und Ästhetik“, 360 S., 36 DM.

Beide Bücher erscheinen im Junius-Verlag, Hamburg.