Früchte von bitterem Geschmack

Der neue Roman von Josef Winkler  ■ Von Bernd Kempker

Ist Josef Winkler der Schreckensmann unter den deutschsprachigen Schriftstellern? Was er sieht, blutet, was er riecht, verwest, immerzu hört er Krähen, und selbst durch die Träume geht der „barfüßige Tod“. Gespeist wird dieser „Erfahrungsschatz“ aus den Adern des durch Selbstmord und Unglück verblutenden Kärntner Heimatdorfes, das, wie jeder seiner Leser weiß, nach völligem Niederbrand in der Form eines Kruzifixes neu angelegt worden war. Haß und Schuldgefühle wurden hier solange gesät und mit katholischem Glauben gedüngt, bis auch im letzten Heustadl ein jugendlicher Selbstmörder am Kalbstrick hängt. (Tatsächlich soll diese alte und theatralische Methode in vielen ländlichen Gebieten eine ungebrochene Anziehungskraft ausüben.)

Vier Romane bilden bisher die hartnäckig geschriebene Saga dieses verfluchten Dorfes — oder der Fluch beweist seine Hartnäckigkeit, und es gibt für den Schreibenden wie für die Figuren der Romane kein Entkommen. So soll das Dorf des öfteren in fernen Ländern Verstorbene auf den heimatlichen Friedhof zurückgeholt haben.

Josef Winkler hat den Spieß umgedreht und es seinem Dorf gleichgetan, er hat es geboren und begraben in seinen Büchern, wo es ewig weiterzuleben hat. Doch lebt es dort nicht einfach als Abgebildetes fort, die Prosa selbst ist ein Kind der Gewalttätigkeit und des Hasses. Der Blick ist hemmungslos, die Sprache genau und klar, wo sie beschreibt, und metaphernsüchtig, wo sie die fürchterlichsten Geschehnisse zu fassen sucht. Alles Beschönigende und Gefällige ist dieser Literatur wesensfremd; es ist ihr verhaßt.

Mit seinem jüngsten Roman „Friedhof der bitteren Orangen“ bricht Winklers Schreiben, allem Anschein nach, erstmals aus seinem Dorf aus. Der Ich-Erzähler lebt, vorübergehend, in Rom und berichtet, was er in seinem „Straßennotizbuch“ den Tag über und in die Nächte hinein an Bildern festgehalten hat.

Auf der Suche nach Bildern, die ihn erregen, streift er durch römische Straßen und Märkte oder sucht den Lido di Ostia auf. Seine Vorliebe aber gilt der Stazione Termini, den U-Bahn-Hallen, den Plätzen der Strichjungen und Transvestiten, den Kirchen, Friedhöfen und Aufbahrungshallen.

Als Leser folgt man diesem unheimlichen Flaneur wie einem Fremdenführer, der eben nur nicht zum Schönen, Wahren & Guten hochweist, sondern dorthin, wo die Menschen häßlich, gemein und verloren sind. „Aber weitergehend sagte ich mir, daß ich vor nichts ausweichen, daß ich Türen aufstoßen und meine Schreibobjekte von allen möglichen Seiten betrachten sollte.“

Der persönliche Geschmack mag hier wichtig sein, wenn man die manchmal filmschnittartig aneinandergereihten Beobachtungen und Erlebnisse mit Genuß und anhaltender Neugier liest. Wer sich nicht ein klitzekleines Maß an unfeinen Charakterzügen erlaubt, der hat hier nichts verstanden. Erleichternd wirkt, daß man als Sünder nicht allein dasteht, da der Erzähler auch vor sich selbst nicht ausweicht und sich zu seinen Neigungen des öfteren bekennt: „Bevor ich die Pasticceria Euclide verließ, machte ich in meinem Straßennotizbuch (...) die Aufzeichnung, daß ich in der Pasticceria Euclide auf der Piazza Euclide, als ich gerade einen Capuccino trank, neben einer gichtkranken Frau stand, die Mayonnaise von ihrer verkrüppelten Hand leckte. Ich trat vor die Konditoreitür und stieß auf die Bettlerin, die zum Wochenende neben dem Mann im Rollstuhl und neben dem Werbeplakat einer Unterwäschefirma mit ausgestreckter Hand auf Almosen wartete. An diesem Tag war ich erbarmungslos. Dabei hätte ich doch gerade an diesem Tag der Bettlerin ein paar Lire geben sollen, allein schon deswegen, weil ich mich gefreut hatte, einen Capuccino neben einer alten Frau zu trinken, die Mayonnaise von ihren verkrüppelten Fingern leckte.“

Ein wichtigerer Grund für die Anziehungskraft dieses Erzählens ist aber wohl die von Walter Benjamin so gelobte interpretatorische Offenheit. Obwohl der Erzähler doch sehr eindeutige Interessen verfolgt, wertet oder interpretiert er kaum. Seine Prosa hat leise, unspektakultäre Seiten. Nur einmal bringt er es tatsächlich fertig, das voyeuristische Gaffen nach einer Strandleiche so zu erzählen, daß seine Empörung deutlich wird und der Leser sie teilen soll. Meist ist er aber ein mindestens so unheimliches Wesen wie die, die er aufsucht. So nimmt eine das Colosseum fotografierende Liliputanerin erschrocken Reißaus, als sich ihre Blicke treffen.

Die Bildersucht des Flaneurs, die Strategie des Straßennotizbuches bringt noch einen ganz anderen Gewinn. Dieses Erzählen produziert eine Erregung, die immer wieder Assoziationen aus der oben angesprochenen heimatlichen Dorfwelt ermöglicht. Nach und nach werden diese Erinnerungen umfangreicher, bis es natürlich erscheint, daß ganze Kapitel unvermittelt von der Vergangenheit erzählen. Davon, wie der dreijährige Erzähler von seiner Großmutter väterlicherseits über den Sarg mit seiner Großmutter mütterlicherseits gehoben wurde mit den Worten: „Schau, Seppl, schau!“ Oder der drei Generationen alte hölzerne Eßlöffel des Vaters, der Tag für Tag mit der Suppe vorgesetzt wurde. Der Winkler erzählt einem Geschichten, die man sein Lebtag nicht vergißt, könnte man dazu sagen, und man könnte recht behalten.

Von der Gegenwart, vom Untermieterdasein in Rom vor und nach den erschöpfenden „Beobachtungsmärschen“ erfährt man in einem längeren Abschnitt des Mittelteils. Mit der Vermieterin entwickelt sich ein Zusammenleben in bester österreichischer Theatertradition, naturgemäß schrecklich. Leontine Fanshawe lebt mit der einen Idee, daß ein Gericht und ihr früherer Mann noch einmal eine Stunde lang zuhören müssen und sie alles über ihr Eheleben sagen wird. „Dieser Scheidungsprozeß, so Leontine Fanshawe wörtlich, ist für mich wie für dich das Schreiben.“

Winkler führt seine alten und neuen Motive immer dichter zusammen, wobei vieles von Todes- und Gewaltträumen ans Tageslicht gebracht wird, die gleich nach dem Hochschrecken aus dem Schlaf in das neben dem Bett liegende Straßennotizbuch eingetragen werden. Das wichtigste Ereignis für alle Winkler- Bücher und letztendlich wohl auch für den „Friedhof der bitteren Orangen“ ist der Selbstmord des Jugendfreundes und Geliebten Jakob. Etwa in der Mitte dieses Buches wird auf anderthalb Seiten das letzte Zubettgehen Jakobs erzählt oder erfunden, bis in kleinste Bewegungen. Das hat ein Liebender geschrieben. An anderer Stelle schreibt der Erzähler, daß er nie aufhören werde, von Jakob zu erzählen. Mit diesem Verlust scheint ein Teil von ihm selbst verloren zu sein, und all die Knaben geben nur einen kurzen Trost.

Daß alle Früchte des Straßennotizbuches von ein wenig bitterem Geschmack sind und daß die „transzendentale Heimatlosigkeit“ des Erzählers Frieden noch am ehesten auf dem Friedhof findet, das ist nur eine von vielen Lesarten des prächtigen Titels, dem früheren Namen eines mit Orangen bepflanzten ehemaligen neapolitanischen Armenfriedhofes, „der sich aus 365 numerierten Gruben zusammensetzte, in denen kalendarisch die Toten des Tages ohne Särge, vollkommen nackt, begraben wurden.“

Diese 365 Gruben ermöglichen es dem Autor, dem Roman einen weiteren, völlig andersartigen Textteil anzugliedern. 84 legenden- und chronikartige Geschichten von Heiligen, Päpsten, Gläubigen und Abergläubigen bilden den Jammer und Schauder erregenden Rahmen des Haupttextes. Diese Geschichten hat der Autor in den numerierten Gruben versenkt, und er hat seine Geschichten in die Mitte der Geschichten gelegt. Und warum, zum Teufel, wirkt das alles nicht wie ein kitschiger, katholisch-pubertärer Mummenschanz?

Jeder Roman hat eigene, oft nicht genau bestimmbare Gesetze seiner Glaubwürdigkeit. Wichtig ist in jedem Fall eine dem Stoff angemessene Sprache; bei Josef Winkler hat man nie das Gefühl, manches könne anders oder gar besser ausgedrückt werden, er besitzt ein absolutes Gehör für seinen Stoff. Zuletzt möchte ich eine Qualität dieses Buches ansprechen, die man nicht unbedingt erwartet, die aber für seine Glaubwürdigkeit wichtig ist. Ein schönes Maß an ironischer Distanz und Witz taucht hier und da auf, und oft als kleine Perle: „Als ich eine Zeitlang später wieder einmal davon sprach, mir auf gewaltsame Art und Weise das Leben zu nehmen, vielleicht in einem römischen Schlachthof, indem ich mir von einer Maschine die Haut abziehen lasse, sagte Leontine Fanshawe, so etwas möchte ich nicht wieder hören! Den Selbstmord schlägst du dir aus dem Kopf!“

Josef Winkler, „Friedhof der bitteren Orangen“. Roman. Suhrkamp Verlag, geb., 424 Seiten, 38 DM.