Das Ghetto von Lemberg

Archäologie einer Stadt  ■ Von Marie-Luise Bott

Die Partnerschaft mit der ukrainischen Stadt Lviv (polnisch Lwów, russisch Lwow, deutsch Lemberg), die Freiburg in diesem Jahr abschloß, scheint die intensivste von allen bisher bestehenden Städtepartnerschaften Freiburgs zu werden. Ein Zwei-Jahres-Plan über wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Austausch liegt bereits vor. Ein dreisprachiger Städteführer ist in Arbeit. Und es gingen Besuche hinüber und herüber. Initiatorin der Städtpartnerschaft war die Deutsch- Sowjetische Gesellschaft Südbaden. Denen, die noch im Zeichen deutsch- sowjetischer Freundschaft hinreisten, wurde sehr bald klar, daß die einstige galizische Hauptstadt, die inzwischen zu einem Zentrum der ukranischen Autonomiebestrebungen geworden war — übrigens aber viereinhalb Jahrhunderte lang, 1349—1772 und 1919—1939, polnisch und dazwischen 16 Jahre lang habsburgisch war —, etwas mehr Feingefühl verlangt.

Doch es gibt noch einen anderen Grund, weshalb deutsche Besucher einiges geschichtliches Wissen mit nach Lemberg bringen sollten. Zwischen 1941 und 1943 wurden im Ghetto von Lemberg annähernd 150.000 Menschen — etwas weniger als die heutige Bevölkerung von Freiburg — umgebracht.

Die darüber zusammengetragenen Dokumkente liegen bis heute weder auf Deutsch noch auf Russisch vor. Die Schriftsteller Ilja Ehrenburg und Wassilij Grossmann hatten in den Jahren 1944—46 umfangreiches Material (Briefe, Tagebücher, Stenogramme von Erzählungen, Zeugenaussagen) zusammengetragen und nach Regionen geordnet zu einem „Schwarzbuch“ zusammengestellt: Rußland, die Ukraine, Weißrußland, Lettland, Litauen, Estland. Das Manuskript war für die Veröffentlichung in Moskau bereits druckfertig gesetzt. Da hatte Stalin plötzlich offenbar genug von der Arbeit der „Literarischen Kommission“ des „Jüdischen Antifaschisten- Komitees“. Das Buch ist auf Russisch nie erschienen. Seine Druckplatten wurden 1948 vernichtet. Eine nicht ganz vollständige Kopie des Manuskripts erschien erst 1980 in Jerusalem und ein Jahr später in New York. Dieses „Schwarzbuch“ — ein Fundus für Historiker — enthält auch ein Kapitel über den „Judenmord in Lemberg“.

Die Nationalsozialisten hatten nicht damit gerechnet, daß es Menschen mit Gedächtnis geben würde

Womit keine totalitäre Macht im Augenblick ihrer Herrschft je rechnet, hatte sich auch in Lemberg ereignet: Es gab Überlebende. Und sie legten vor der Nachwelt Zeugnis ab. Der alles berechnende deutsche Faschismus, der sich für allmächtig hielt, hatte Eigenschaften wie Mut, Glück oder Solidarität nicht bedacht. Die Nationalsozialisten, die augenblicklich alles vergaßen und verdrängten, um nur nie die Verantwortung für ihre Taten übernehmen zu müssen, hatten nicht damit gerechnet, daß es auch weiterhin Menschen mit Gedächtnis geben würde. Im Falle Lembergs waren das Lily Herz, Naphtali Nacht, Leopold Schor, Jurek Lichter und Artur Strauch.

Die deutschen Truppen, so erinnern sie sich, kamen am 1.Juli 1941 nach Lemberg. Schon der 3.Juli ging als „blutiger Dienstag“ in die Chronik der Lemberger Juden ein. Die örtlichen ukrainischen Faschisten veranstalteten gemeinsam mit den Deutschen eine Razzia. Sie trieben die Juden aus ihren Wohnungen heraus, nahmen ihnen Kleidung und Wertsachen ab, schlugen und quälten sie. So mußten sie sich in einer Reihe aufstellen und einander schlagen. Da sie das nicht „recht“ taten, zeigte ihnen die SS, wie man ins Gesicht hinein schlägt. Unter dem Gelächter ihrer Beobachter mußten nun die Juden einander die Wange zum Schlag hinhalten. Sie alle wurden erschossen. 5.000 Tote gab es während dieser ersten „Aktion“.

Zwei Tage später, am 5.Juli, mußten Männer und Frauen sich angeblich zur Arbeitsaufteilung auf dem Platz an der Peltschinskaja- Straße versammeln. Nach zweiwöchiger Quälerei transportierte man sie zur Erschießung ab. Diese ersten Pogrome und Plünderungen wurden von den regulären Truppen durchgeführt. Erst danach hielten die Gestapo und der deutsche Verwaltungsapparat Einzug in Lemberg.

Am 15.Juli proklamierte Generalleutnant Fritz Katzmann, Leiter der Judenvernichtung in der Westukraine: „1. Alle Juden von 12 Jahren an und älter sind verpflichtet, eine Armbinde mit aufgenähtem sechseckigem Stern zu tragen. Wer ohne diese Armbinde auf der Straße erscheint, wird mit dem Tode bestraft. 2. Juden ist bei Todesstrafe verboten, ihren Wohnsitz ohne Erlaubnis der Deutschen Behörde für Jüdische Angelegenheiten zu wechseln.“

Damit begann die Ghettoisierung der Juden. Die Gestapo unter Major Engels bezog in der Peltschinskaja- Straße Quartier. Erste und wichtigste Maßnahme der NS-Bürokratie war es, die Juden in unterschiedliche Gruppen aufzuspalten: der Gedanke an Widerstand sollte gar nicht aufkommen. Die deutsche „Verwaltung“ unterschied in „Arbeitsjuden“ und „Nichtarbeitsjuden“. Erstere erhielten für ihre Arbeit keinen Lohn, nur 100 Gramm Brot, die sie oft genug ihren Vorgesetzten noch abkaufen mußten. Auch für die Ausstellung der „Arbeitskarte“ hatten sie zu bezahlen. Diese „Arbeitskarte“ war ein heiß begehrtes Gut. Sie schob die sichere Ermordung für einige Zeit auf. Jeder zur Zwangsarbeit eingeteilte Jude mußte eine Armbinde mit dem Buchstaben „A“ wie „Arbeitsjude“ tragen. Später wurde noch ein weiß aufgenähtes „W“ wie Wehrmacht oder „R“ wie Rüstung eingeführt. Damit waren die Juden gekennzeichnet, die unmittelbar für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiteten. Da jedoch die vom „Arbeitsamt“ eingeführten Armbinden bald gefälscht wurden, ersetzte die deutsche Verwaltung das „Arbeitskarten-“ durch ein „Meldekarten-System“.

Wer nicht arbeitete, war für die deutschen Besatzer grundsätzlich „unwert“

Im Herbst 1941 wurde das Ghetto in der Kleparow-Vorstadt mit einem hohen Zaun umgeben. Am 12.November tauchten bewaffnete Gestapo-Männer am Tor auf. Zwei Tage lang kontrollierten sie alle, die das Ghetto zur Arbeit verließen und sonderten diejenigen aus, die weder ein „R“ noch ein „W“ auf ihren Armbinden trugen. 12.000 Menschen wurden auf Viehwagen verladen und zur Hinrichtung nach Belżec abtransportiert. Einigen gelang es, zu fliehen. Sie berichteten von dem Vernichtungsort, den die Deutschen streng geheim hielten. In Belżec wurden die Menschen in einer riesigen Halle, deren Fußboden von elektrischen Leitungen durchzogen war, mit Strom getötet. Auch das Personal des Lemberger Bahnhofs wußte, wohin die Züge gingen und was mit den Juden geschah. Sie erzählten es ihren Verwandten und Freunden.

Das Kleparow-Ghetto wurde im Dezember 1941 geschlossen. Am Tor waren bewaffnete Gestapo-Soldaten postiert. Nur noch die „Arbeitsjuden“ durften morgens in Gruppen das Ghetto verlassen. Ende Dezember mußten die Arbeiter dann in Barackenlager unmittelbar neben den Fabriken in der Samarstynowska-Straße, der Lobijetek-, Kressowa- und Kuschewitsch-Straße umziehen. Hier entstand ein zweites Ghetto. die Bewohner des ersten — alte Menschen, Frauen, Kinder — ahnten allen anderslautenden, hoffnungsvolleren Gerüchten zum Trotz, daß ihnen die Vernichtung bevorstand. Ihr arbeitsloses Leben war für die deutschen Besatzer gänzlich „unwert“. In der Nacht vom 4.Januar fielen die ersten Schüsse. Sie kündigten eine neue „Aktion“ an. In Panik flohen die Juden in ihre Verstecke in Kellern, Geheimgängen, Öfen, Dachkammern. Am Morgen des 5.Juli, nachdem die letzten Arbeiterkolonnen Kleparow verlassen hatten, begann das „Januar-Massaker“.

Nach der Zerstörung des Kleparow-Ghettos lebten noch etwa 20.000 Juden in der Stadt. Das Jüdische Gefängnis in der Lontsky- Straße war überfüllt. Gestapo-Major Engels besuchte es häufig und ließ hier seinem Sadismus freien Lauf. Zur Belustigung des Besuchers wurden die Juden in den Gefängnishof geführt. Engels quälte und schlug sie, bis das Blut floß. Er versprach ihnen Leben und Freiheit, und wenn er einen Funken Hoffnung in den Augen seiner Opfer bemerkte, lachte er und schoß sie nieder. Waren die Zellen zu voll, wurden Lastwagen mit Häftlingen nach Piaskowa Góra gebracht, ein nahegelegener, bewaldeter Ort, von nun an Massenvernichtungsstätte für die Lemberger Juden.

Engels führte nie Massenpogrome im Gefängnis durch, immer nur „Säuberungsaktionen“, „Transporte“. Auf diese Weise brachte er -zigtausend Menschen um. Was hatten sie verbrochen? Sie waren ohne Armbinde auf die Straße gegangen; die Armbinde des einen war zu schmal; der andere hatte sich vor einem Deutschen nicht zum Gruß verneigt; wieder einer kam einfach so ins Gefängnis, „weil du ein Jude bist“.

Ende 1941 hatte Gebietskommandeur Frank für die Juden der Westukraine Zwangsarbeit in Konzentrationslagern erlassen. Das Schreklichste lag in der Janowska-Straße in Lemberg. Hier waren mehrere tausend Juden interniert. Die mußten zunächst ein hügeliges Areal für künftige KZ planieren. Bis sie etwa 20 Baracken gebaut hatten, schliefen sie unter freiem Himmel. Das geschah im Winter 1941/42. Die Sterbenden wurden durch Neuankommende ersetzt. Das Lagergelände wurde mit Grabsteinen vom Jüdischen Friedhof gepflastert, mit Stacheldraht und Wachtürmen umgeben und von SS und Gestapo bewacht. Vom Haupteingang führte eine Straße zu den Lagerbaracken, dem Appellplatz und der Küche, eine andere die Hügel hinauf, wo die Hinrichtungen stattfanden. Die Menschen im Lager gingen schweigend umher. Über allem lag ein süßlicher Leichengeruch. Jeden Morgen vor der Arbeit war Appell. Die Arbeitsgruppen, angeführt von je einem „Oberjuden“, traten an zum Exerzieren. Nach endlosem „Auf!“ und „Nieder!“ wurden die Kranken und Schwachen zur Erschießung fortgeschafft. Die Toten wurden in Reihen ausgelegt. Die Lebenden marschierten zur Arbeit ab.

das Janowski-Lager war Sammelpunkt für die „Liquidierung“ von Juden aus der ganzen Westukraine. Am Lagertor erfaßte ein Deutscher jeden einzelnen mit Namen. Die jungen kräftigen Männer blieben im Lager, alle anderen wurden an den Bahnhof gebracht oder auf Lastwagen nach Piaskowa Góra verladen. Jeder wußte, was das hieß. Einige schrien und weinten, andere wurden verrückt und lachten.

Wer unter den 150 Kilo zusammenbrach, wurde erschossen

Im Janowski-Lager arbeitete die Elite der SS, geschult bei den Meistern von Dachau und Mauthausen. Unter der Leitung von Ketzmann und Gebauer wetteiferten die Musterschüler hier in der Perfektionierung ihrer Talente. Sonntags etwa fanden „Rennen“ statt. Mit ihren wunden, geschwollenen Füßen mußten die Juden einen 400-Meter-Lauf machen, während SS-Männer zu beiden Seiten versuchten, ihnen ein Bein zu stellen. wer hinfiel, kam auf „die andere Seite“ des Stacheldrahtes und wurde erschosen. Das sogenannte „Brettern“ bestand darin, schwere, für den Barackenbau bestimmte Bohlen von einem Platz zum anderen zu schleppen. Jeder einzelne mußte sich 150 Kilo auf die Schultern laden. Wer darunter zusammenbrach, wurde erschossen. Am gefürchtetsten waren die Alkohol-Orgien der SS. Da drangen sie in die nächstliegende Baracke ein, zerrten ihre Bewohner heraus in den Schnee und quälten sie langsam zu Tode. Gebauer pflegte seine Opfer zu erwürgen oder zwischen zwei Brettern zu erdrücken. Als Scharführer Willhaus die Lagerleitung übernahm, wurde massenhaft ermordet: In regelmäßigen Abständen sonderten Kontrollen unter den Häftlingen alle Kranken und Ausgemergelten zur Hinrichtung aus. Im Februar 1943 ging die Lagerleitung an SS- Hauptsturmführer Josef Grzymek, einen Volksdeutschen aus Posen. Grzymek liebte Sauberkeit. Am Lagerzaun ließ er Tafeln anbringen: „Arbeit! Reinlichkeit! Disziplin! Alles an seinem Platz!“ Er pflegte auf einem Pferd durchs Lager zu reiten, und jeder hatte den Hut vor ihm zu ziehen. Unter Grzymeks Aufsicht wurde der Gang zur Arbeit eine Tortur. Bald mußten die „W“ und „R“ abgetrennt zur Kontrolle auf der Hand präsentiert, bald die Arbeitsausweise über dem Kopf hochgehalten werden. Ein Orchester spielte Militärmärsche auf, während die Arbeiter im Stechschritt zum Lagertor hinauszogen. Jeder Barackenflügel bekam einen Wachmann und eine Putzfrau. Die Straßen waren sauber gefegt, die Baracken frisch geweißt. Grzymek überwachte das persönlich. Aber in den frisch geweißten Baracken brach Typhus aus, und die Menschen starben zu Tausenden.

Die Presse machte bekannt, daß das Verstecken von Juden mit dem Tod bestraft wird

All diese Verbrechen brachten die polnische und ukrainische Bevölkerung von Lemberg auf. Sie zu beschwichtigen, war Aufgabe der örtlichen Presse. Die 'Lemberger Deutsche Zeitung‘, die 'Gazeta Lwowska‘ und die 'Lvivskiye visti‘ befleißigten sich, nachzuweisen, daß „historische Gerechtigkeit“ die jüdische Rasse durch die Hand der Deutschen strafe. Um die Massenvernichtungen zu rechtfertigen, startete die 'Lemberger Deutsche Zeitung‘ eine mit Bibel- und Talmud-Zitaten gespickte „Aufklärungs“-Kampagne über die „jüdische Verschwörung“ gegen die „arischen Völker“ und berichtete von angeblichen Angriffen der Juden auf die deutsche Bevölkerung von Bromberg und Posen. Katzmann ließ über die Presse bekanntmachen, daß das Verstecken von Juden mit dem Tode bestraft werde.

Die Wirkung dieser Pamphlete war gering. Eine große Zahl Juden fand bei Polen und Ukrainern in der Stadt Aufnahme und Hilfe. Sie verbargen sich, bis sie wieder zu Kräften gekommen waren, und flohen dann weiter in die Wälder zu den Partisanen. Sie gaben sich als „Arier“ aus und arbeiteten als Polen oder Ukrainer „verkleidet“. Diejenigen, die ein gutes Französisch sprachen, zogen die Uniform französischer Kriegsgefangener an und lebten in deren Lager. Die Gestapo erfuhr jedoch bald von den „falschen Ariern“ und durchsetzte ganz Lemberg mit Geheimagenten. Denunzianten wurden reich belohnt, öfter aber auch tot aufgefunden. Aufsehen erregte der Fall der Studentin Lina Haus. Sie lebte unter neuem Namen als Polin in der Jachowitsch-Straße und war in einer deutschen Firma angestellt. Eines Tages suchte sie ein Geheimagent zu Hause auf, um ihre Papiere zu kontrollieren. Man fand ihn erdrosselt. Lina Haus aber war spurlos verschwunden.

Viele Polen nahmen jüdische Kinder, vor allem die unbeschnittenen Mädchen bei sich auf und retteten sie so vor dem Tod. Etliche bezahlten dafür mit ihrem Leben.

Trotz ununterbrochener Bewachung formierte sich auch in Lemberg eine Widerstandsbewegung

Anders als im Ghetto war für die Juden im Lager an Flucht nicht zu denken. Sie standen ununterbrochen unter Bewachung. Ihre Lage war aussichtslos. Und dennoch formierte sich hier — wie in Warschau und Wilna — sehr früh eine Widerstandsbewegung. Ein erstes Hoffnungszeichen war der Sieg über die Deutschen im Januar 1943 bei Stalingrad. Als Rechtsanwalt Mandel zur Exekution abgeführt wurde, rief er laut: „Es lebe die Sowjetunion! Es lebe die Freiheit!“ Diese Worte wurden im ganzen Lager diskutiert. Sie wirkten wie ein Startsignal. Endlich war Schluß mit Passivität und Gehorsam. Die jüdischen Schriftsteller Friedmann, Laun und Schudrich gründeten noch im Januar 1943 ein „Komitee für den bewaffneten Widerstand gegen die Deutschen“. Schudrich vertrat das Ghetto, Friedmann das Janowski-Lager. Sie sammelten Geld und organisierten Waffen. Sie gaben eine Untergrundzeitung heraus. Über die Partisanen in den umliegenden Wäldern nahmen sie Kontakt zur Warschauer Widerstandsbewegung auf. Abgeordneten des Komitees — darunter auch eine Frau, Dr.Lina Goldberg — gelang es, nach Brody durchzukommen, und sie taten sich mit den wolhynischen Partisanen zusammen. Ununterbrochen gelangten Waffen in das Ghetto von Lemberg. Eines Tages fanden SS- Männer bei einem Juden einen Revolver. Von da an wurden auch die Baracken regelmäßig durchsucht. In der Lokijetek-Straße entdeckte die SS ein Waffenlager. Aber es gelang ihr nicht, die Organisatoren aufzuspüren.

Das Komitee suchte Leute, um sie nach Brody zu schicken und dort ein Zentrum des bewaffneten Widerstands aufzubauen. Für eine große Summe Geld wurden drei Lastwagen gemietet und drei Gruppen mit überwiegend jungen Menschen nach Brody gebracht. Den Brody-Partisanen gelangen mehr und mehr Angriffe und Sabotageakte gegen die Deutschen. Die Gestapo bemühte sich vergebens, das ständig wechselnde Hauptquartier der Partisanenbewegung ausfindig zu machen.

Als die Mitglieder des Komitees im Frühling 1943 von der bevorstehenden Liquidierung des Lemberger Ghettos erfuhren, beschlossen sie, in die Wälder zu fliehen und von dort aus weiterzukämpfen. Schudrich sollte eine Gruppe von 17 Personen aus dem Ghetto in die Wälder bringen. Die Abfahrt war für den 8.Mai, acht Uhr morgens, festgesetzt. Ihr Lastwagen wurden jedoch in der Syblikewitsch-Straße von einer SS- Einheit umstellt. Jemand hatte sie verraten. Schudrich und seine Leute ergaben sich nicht widerstandslos. Sie alle kamen um. Am Morgen des 9. Mai durchkämmte ein Bataillon der deutschen Infanterie die wälder um Braody. Drei Tage lang kämpften die Partisanen gegen die Deutschen. Nur wenigen gelang es, die Einkesselung zu durchbrechen und sich in die Wälder bei Lublin zu retten.

Als die russischen Truppen näherrückten, begannen die Deutschen, die Vernichtung der Juden zu beschleunigen. Zuerst wuren die Ghettos in der Umgebung von Lemberg zerstört: Przemysl, Sambor, Rudki, Brzeżany, Tarnopol, Jaworów, Żolkiew, Przemyslany, Jaryczów. In den Straßen von Lemberg herrschte Totenstille. Das Ghetto-Tor war ohne Bewachung. Die Deutschen veranstalteten Konzerte und Fußballspiele im Ghetto. Grzymek ließ sich kaum auf der Straße blicken. Die SS stellte ihre Beutezüge ein. Und die Juden wußten, daß dies das Ende war.

Der Stadtplan des heutigen Lemberg: jede Gedächtnisspur ist getilgt

Bereits am 25. April waren die 4.000 Häftlinge des Janowski-Lagers in Piaskowa Góra erschossen worden. Am 1.Juli 1943, um 3 Uhr morgens, brachen die Deutschen ins Ghetto ein und vollendeten ihr Werk. Katzmann, Engels, Lenard, Willhaus, Ingwart und Schönbach leiteten die Liquidierung. Anfangs hatte sich noch ein schwacher Widerstand im Ghetto erhoben: Zwei Polizisten wurden erschossen und mehrere SS- Männer verwundet. Aber die Mörder waren in der Übermacht. Am dritten Tag fuhren brennende Wagen ins Ghetto und setzten alles in Flammen. Die Straßen lagen voller Leichen. Die Schreie der Sterbenden erfüllten die Luft. Der Himmel über der Stadt färbte sich schwarz vor Rauch.

Piaskowa Góra, Peltschinskaja, Lontsky, Janmowska, Samarstynowska, Lokijetek, Kuschewitsch, Kressowa — wo sind diese Plätze und Straßen heute? Im Stadtplan des heutigen Lemberg sind sie nicht mehr zu finden. Als am 27.Juli 1944 die Sowjets nach Lemberg kamen — heute spricht man wieder offen von Besetzung und nicht von Befreiung —, wurden die Straßen umbenannt nach Marx und Lenin, Puschkin und Schewtschenko. Jede Gedächtnisspur scheint getilgt. Ein Denkmal für die umgekommenen Juden gibt es nicht. Die polnische Bevölkerung Lembergs wurde ausgesiedelt.

Heute sind die 800.000 Einwohner der Stadt zu 90 Prozent Ukrainer. Die übrigen 10 Prozent verteilen sich auf Russen, Weißrussen, Polen, Armenier, Juden,... Unter ihnen sind wohl kaum noch Überlebende des Lemberger Ghettos. Doch nicht nur um sie geht es, sondern um uns, die Nachkommen. Die Katzmanns, Engels, Gebauers, Schönbachs, Heinischs und ihre Lemberger Helfer haben uns als Erbe die Gedächtnislosigkeit hinterlassen.

Ilya Ehrenburg, Vasily Grossman: The Black Book. The Ruthless Murder of Jews by German-Facist Invaders Throughout the Temporarily-Occupied Regions of the Soviet Union and in the Death Camps of Poland During the War of 1941-1945, Holocaust Library, New York 1981