Geschichten des Mundes

■ Ein deutsches Prosa-Debut

Kein Mann, drei Frauen, Christa, Bettina und Marie fragen hier: „was können wir wissen was sollen wir tun was dürfen wir hoffen.“

Eine, „vielleicht heißt sie marie“, wartet abends im Zimmer auf den Besuch, der mordet, und flieht in die „helle halle“ von Maria, der Malerin. Die Furcht ist mitgekommen, die Bilder sehen sie an:

„die heilige familie wird sie ansehen, abfallholz dachgehölz vater und mutter und kind. mutter gehöhlt eine höhlenhölle erblaßt am kopf mit der waffe am kopf die verschiebung von unten nach oben der Kochlöffel drischt frau und kind nur einen kochlöffel recht er doch nur einen kochlöffel nur wie kann das kind das wissen und wie kann das kind da heraus familiär komm laß mich schlafen furchtlos.“

Sabine Peters nennt ihre erste Prosaveröffentlichung: „Der Stachel am Kopf“. Gerade haben wir den Stachel als Waffe gelesen und werden gefragt:

„wer wird vor bildern und vor figuren gestanden haben. ist das marie. wer wird zu den bildern gesprochen haben, wenn jemand spricht wird es hell in der halle viel bilder viel menschen viel stimmen das große treffen von stimme und anblick berührung.“

Wir werden gefragt:

„wer kennt nicht die erstarrung, wer fühlte nicht furcht wenn der mörder schreiend dem kind auf die brust sticht mit krummen finger von oben der finger das kind sieht hinauf in die hölle, wie werden menschen verbogen gedreht und haben zur sprache zu finden zu ihren bildern und wörtern.“

Wir hören Stimmen reden, wir hören: Marie, vielleicht vier, Bettina, erst fünf, Christa hat alles vergessen, wieder Marie, gerade sechs, Bettina etwa sieben, Christa hat alles sagenhaft vergessen.

Die Stimmen der Kinder erzählen ihre Geschichten, aber auch die Erwachsenen, die Elternpaare jeweils von Marie, Christa und Bettina erzählen von einem Leben im NaziDeutschland, wie sie so geworden sind und was. Allen Figuren wird mit einer fast unglaublichen Gerechtigkeit Raum gegeben und das Wort erteilt, sei es in Form eines Porträts, Monologs, Briefs, Tagebuchs, Protokolls...

Das „ich“ verwandelt sich in alle diese Figuren, die unermüdlich reden, manchmal mitten im Satz die Perspektive wechseln, da redet eine andere Stimme weiter, Stimmen werden von Stimmen überlagert, Stimmen erinnern sich an andere Stimmen und Reden, und es gibt nur eine Rettung: dies alles sich selbst laut zu lesen.

Dann begegnen wir wieder dem Bild des Stachels und werden gefragt: „was heißt denn hier wir, die frage ein stachel, der treibt und der sticht dich.“

Zum Beispiel: Bettina, die Studentin, lebt draußen und besucht drinnen Freunde, an denen Facharbeit am Menschen, der Vollzug vollzogen wird. Auch Bettina fragt und fragt sich, was sie tun soll, Hungerstreik draußen? Und was sie hoffen darf: „wir geben nicht auf und wir sterben nicht.“

Reden ist auch hier ein „fahren durch leiber und land“, doch was sind und wer ist in diesen Reden ich?

„... denn ich ist doch, mensch, ein mensch, macht geschichten, hängt in geschichten, an fäden... ich bringt seine zeit nur so hin, ausgesetzt auf einer weide... die spinne arbeitet mit gesenktem kopf weinend an ihrem netz... die wörter folgen eins auf das andre ununterbrechbar dunkel kolonnenweithin, verlagerung aufschub hinausschub versagung all dessen was eine welt verlangt, das eigenste gänzlich volle, das reine, das ganze, die hülle und fülle des lebens.“ Und:

„zum anfang. wo ist der. bei mir. da will ich nicht bleiben... kein anfang, nicht ich... was hilft es uns namen zu wissen, wenn wir nicht sagen, hier bin ich, von dort, und das nenn ich, das will ich, dort wend ich mich hin.“

Hatte Marie, die Schriftstellerin, den Plan, „Menschengeschichte als Menschengeschichte zu lieben. Wie konnte Marie je annehmen, lieben zu können. der aufschub der rettet ist daß marie liebt.“ Und da „die absicht entfesselung ist will der Stachel gespitzt sein. Er nagelt christa aufs blatt... stachelt marie, bettina.“

Wenn der Stachel, die Waffe, das Wort ist, das Wort immer Aufschub und zugleich vorantreibt, dann hat der Stachel in dieser Prosa von Sabine Peters zuweilen recht spitz Geschichten und Geschichte gestachelt, gefesselt, entfesselt und fesselt. Birgit Kempker

Sabine Peters: „Der Stachel am Kopf“, Rowohlt, 272 S., 32 DM