Das Opfer und sein Herausgeber

■ Anna Seghers' nachgelassene Erzählung „Der gerechte Richter“ und ein Nachwort

In den vielen Feuilleton-Artikeln, die auf Christa Wolfs Bändchen „Was bleibt“ folgten, ist kaum ein Wort über den literarischen Text gefallen. Das ist bedauerlich, weil er es wohl verdient hätte. Auch bei Anna Seghers' Erzählung „Der gerechte Richter“ fällt es schwer, vom Literarischen zu sprechen (soviel scheint mir klar: ein Meisterwerk ist es nicht), woran neben dem Zeitpunkt der Veröffentlichung vor allem das Nachwort Schuld hat: ein ärgerlicher Text.

Nach der Publikation von Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ traf Anna Seghers der Vorwurf des Schweigens; geschwiegen habe sie in einem Prozeß, in dem ihr Verleger, ein alter Spanienkämpfer und Gefährte des Exils, zu Unrecht verurteilt wurde, unter anderem für einen Auftrag, den sie selbst ihm erteilt hatte (nämlich Georg Lukács im Herbst 1956 aus Budapest zu befreien). Es war Steffie Spira, die versicherte, daß Anna Seghers bei Walter Ulbricht vorgesprochen habe. In Sachen Janka. Und kurz darauf war die Rede von einem Manuskript im Nachlaß der Seghers, das den Fall Janka literarisch „verarbeitete“.

Natürlich ein schönes Zusammentreffen, wenn die Literaturhistoriker im Nachlaß der Seghers just zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Fund machen. An Zufall mag keiner glauben.

Eine Schlüsselerzählung ist „Der gerechte Richter“ gewiß nicht (zuerst in 'Sinn und Form‘, nun als Aufbau-Bändchen mit dem anspruchsvollen Untertitel „Eine Novelle“ erschienen). Erzählt wird die Geschichte eines jungen Untersuchungsrichters in der jungen DDR, der den Gerichtsfall eines alten Spanienkämpfers zugewiesen bekommt, sich in den Fall verstrickt, selbst zum Fall wird, zu Fall kommt, als Lagerhäftling dem Spanienkämpfer wiederbegegnet und ihm das Leben rettet.

Eine sehr spannende und bemerkenswerte Erzählung, weniger wegen der schwachen Bezüge zum Fall Janka — da gab es einen Staatsanwalt, der den Fall nicht übernehmen wollte und in den Kulturbereich „strafversetzt“ wurde, sein Name ist Bruno Haid —, als wegen des politischen Anschauungsmaterials, das Anna Seghers auf wenigen Seiten ausbreitet. In diesem Sinne übertrifft die Novelle an Bedeutung das Bändchen von Christa Wolf. Sie berichtet, wie die Klaviatur des Systems spielt, wie Korruption und Opportunismus funktionieren. Ein rücksichtsloser Text, der ins Zentrum zielt, auf die Partei. Von ihr gehen Unrecht, Vernichtung und Lüge aus — eine Lektion, die sich sonst nur in der Renegatenliteratur findet. Daß dieser Text und der von Christa Wolf in der Schublade blieben, ist traurig, gerade weil es so einleuchtend ist.

Der Schluß der Erzählung feiert, wie so häufig bei Seghers, den ungesehenen Helden und die Kraft der Schwachen; damit aber wird die gewonnene Erkenntnis wieder zunichte gemacht. Nachdem der Held seine Lektion begriffen hat, schwenkt die Erzählung ein auf das Prinzip Hoffnung, das irgendwo in der Zukunft verankert ist; die Niederlage wird zum künftigen Sieg erklärt. Man muß die Möglichkeit zugestehen, daß die Seghers aus Unzufriedenheit über diese Konstruktion den Text nicht zur Veröffentlichung gab. „Wichtig/Überarbeiten“, steht auf der Mappe von 1958. Obwohl die jetzige Publikation des Seghers-Textes so deutlich funktionalen Erwägungen gehorcht, fordert der Autor und Regisseur Günther Rücker in seinem Nachwort scheinheilig das Gegenteil. Aber sein Text ist pure politische Demagogie, die ich poststalinistisch nennen würde. Da wird eine berechtigte Empörung darüber, daß Anna Seghers nach dem Janka- Bericht aus den Bibliotheken und Buchhandlungen herausfliegt, mit der Behauptung verbunden, daß statt dessen nun Jünger und Céline, Benn und Pound Einzug halten in die Bücherregale (die Faschisten also). Anna Seghers' Bücher seien nun auf dem Scheiterhaufen gelandet, weiß Rücker, und er zögert nicht, an den 10. Mai 1933 zu erinnern und von „unabwaschbarem Blut“ zu schreiben. Jeanne d'Arc auf der einen, die braunen Mordgesellen auf der anderen Seite, und dazwischen gibt es keine Namen. Diese demagogische Polarität, die stets bereit ist, den Faschismus zu beschwören, um die eigene Position zu beschönigen, ist sattsam bekannt: das Entweder- Oder, das jedes Dritte (und Vierte usw.) ausschließt. Selbst wenn dem so wäre: Céline gegen Seghers, kein schlechter Tausch — aber schon ist man auf Rückers politische „Logik“ hereingefallen, denn „Transit“ und „Voyage au bout de la nuit“, das von einem klügeren Leser gelobt wurde, von Trotzki, haben Platz nebeneinander; die beiden Bücher bekämpfen sich nicht. Dieses Nachwort ist ein Bärendienst an Anna Seghers, die demütig vom Titelbild herabschauen muß als ein Opfer ihrer Herausgeber. Michael Rohrwasser

Anna Seghers: „Der gerechte Richter. Eine Novelle.“

Mit einem Nachwort von Günther Rücker, Berlin und Weimar,

Aufbau 1990, 7,50 DM