Brandenburgs Suche nach dem Trittbrett

Den Moloch Berlin im Herzen: Zukunftsvisionen in einer umzukrempelnden Landschaft  ■ Von Thomas Worm

Was sagt uns der Zustand des Bodens über das Wesen des Landes? Sandige, karge, sich verweigernde Erde, etliche Male mit dem abgegriffenen Wort von der märkischen „Streusandbüchse“ charakterisiert. Führwahr, reiche Ernte wird schwerlich eingebracht: 40 Doppelzentner Getreide je Hektar — das ist der mieseste Ertrag in der Schattenrepublik DDR. Und doch hat sich das Land, einst durch Preußenhand trockengelegtes Sumpfgebiet, dem Rüben-, Kartoffel- und Obstanbau verschrieben. Nach Mecklenburg ist es die Ersatzkornkammer des östlichen Deutschland, knapp ein Viertel der gesamten Agrarfläche konzentriert sich in Brandenburg.

Wie jedoch soll es diesem bevölkerungsärmsten neuen Bundesland gut gehen, wenn seine Bauern darben? Über 800 LPGs liegen am Boden, zum existieren haben sie zu wenig, zum Bankrott zu viel. Aus dieser Zone der Agonie scheinen die Nutztierzüchter aus Groß-Briesen herausgetreten zu sein: Die erste eingetragene Genossenschaft nach Bundesrecht möchte sich in ökologischem Landbau versuchen. Längst überfälliger Neubeginn, doch zu dürftig. Die kollabierenden Verarbeiter von Nahrungsmitteln im Gürtel von Berlin bleiben ohne Perspektive: das Hinterland fehlt und sie schauen hilfesuchend auf die Stadt.

Von dort tönt es hoffnungsträchtig in die ländlichen Kommunen, von touristischen Segnungen ist die Rede. Fremdenverkehr als Zauberformel, um aus den fossilen Mammut-LPGs Nährstoffe für eine Zukunftsbranche zu ziehen. Land nicht mehr als Ernteboden sondern als kapitale Landschaft — die brandenburgische Selbstbesinnung auf den Charme von 3.000 kieferngesäumten Seen. „Der Umlandtourismus“, äußerte unlängst der Regierungsbevollmächtigte Potsdams, Jochen Wolf (SPD), „ist in meinem Verständnis eine der tragenden Säulen der wirtschaftlichen Entwicklung im Land Brandenburg“. Ohne Visionen kann hier keiner was werden, aber ob aus den Visionen was wird?

Es klappt ja nicht mal mit der Fremdenverkehrswerbung. Kein Geld ist vorhanden, geschweige denn eine touristische Infrastruktur, selbstredend mit West-Standard für BRD-Bürger. Auf deren exotisches Interesse am gerade hinzugewonnenen Deutschland hatten die Urlaubsgebiete Brandenburgs diesen Sommer vergeblich gewartet. Im gurkenreichen Spreewald war für die Fährleute Saure-Gurken-Zeit: 50 Prozent Einbußen. Sogar das attraktive Kultur- und Kunstzentrum Potsdam mit seinen 20 Millionen Kurzzeittouristen nörgelte dieses Jahr herum. Was für die bald tausendjährige Residenzstadt an Hürden besteht, gilt erst recht für abgelegenere Gebiete, „Neuruppin oder wie die Kreise heißen“ (Ostberliner Mitarbeiterin der zentralen Marketinggesellschaft Detoura).

Die leeren Konten der Gemeinden erlauben vielerorts nicht mal die nötigsten Grundinvestitionen in Trink- und Abwasserversorgung. „Damit endlich die abschreckenden Schilder ,Baden auf eigene Gefahr‘ an den noch verschmutzten Seen verschwinden“, sagt Karla Duscha, Potsdamer Dezernentin für Kreisentwicklung. Obwohl sich potentielle Anleger in „Potztupimi“ (Potsdam in der Gründersprache: „Unter den Eichen“) die Klinke in die Hand geben, etwa um Hotels zu bauen, reicht das nicht hin. Allerdings werden im Kreis Potsdam einige Eichen für drei Golfplätze fallen müssen, auf denen sich betuchte Freunde des trockenen „Plopp“ ergehen können. Welche Filetstücke vorfinanzierungswillige Anleger den bargeldlosen Gemeinden allerorten abluchsen, läßt sich derzeit nur ahnen. Fest steht, daß Brandenburgs tourismusfreudige Kommunen auf EG- und Bundeshilfen setzen oder aber versuchen, Steuern über Industrieansiedlungen einzuspielen — nicht unbedingt aufwertend für eine Urlaubsgegend. In dieser Malaise werden die Gemeinden im inneren Zirkel der künftigen Dienstsleistungsmetropole Berlin noch am meisten vom neuen Datschen-Tourismus abbekommen.

Verweisen also doch alle Entwicklungswege auf Berlin? Was den Abfall anbelangt, geht von da zumindest einiges fort, in den Boden des flachen Landes. Die Deponien Vorketzin und Schöneiche stehen gewissermaßen als Begriffe für den Vor- Wende-Müllexport der Berliner. „Wir werden die Abnahmeverträge einhalten“, garantiert der Abteilungsleiter für Abfallwirtschaft des Bezirkes Potsdam, Dieter Wedde, „aber Brandenburg darf nicht die Müllkippe Berlins werden.“ Die künftige Hauptstadt soll sich an den Beseitigungskosten beteiligen, besser noch: weniger rummüllen. Die Sanierung vorhandener Deponien nach bundesdeutschem Abfallgesetz erfolgt schrittweise bis '92 und neue Kippen seien vor fünf Jahren „nich drin“. Unterdessen kämpfen die Rathenower im Westen Brandenburgs wacker mit dem Müll. Sie haben jetzt im Kreis die getrennte Entsorgung von Papier, Glas und Altpapier „angeschoben“, 56 wilde Deponien durch ABM-Kräfte stillgelegt und wedeln Widerspenstigen drohend mit dem Bußgeldkatalog. „Ob's greift?“ — der Leiter vom Umweltamt in Rathenow zeigt sich eher unsicher.

Die 2,6 Millionen EinwohnerInnen des erzprotestantischen Brandenburg, darunter mindestens 35.000 Arbeitslose und 150.000 Kurzarbeiter, üben unter Schmerzen wieder den Geist des Kapitalismus ein. Das geht auch ohne Berlin, wie das Stahlwerk Brandenburg beweist. Anders als bei den Stahlwerkern Eisenhüttenstadts, wo alles in der Schwebe ist, liegt in Brandenburg ein 200 Millionen teures Sanierungskonzept auf dem Tisch. Mit einer um die Hälfte reduzierten Belegschaft von vorerst 3.500 Beschäftigten und drei ausgegliederten GmbHs, ein Engineering-Joint-venture mit der Bundesfirma MAN ist auch dabei, will der einstmals größte DDR- Stahlproduzent weitermachen. Schrumpfkooperation — gängiges Überlebensschema. „Brandenburg wird mitteldeutscher Stahlstandort bleiben“, verkündet optimistisch Werkssprecher Hans-Günther Fischer. Zweifelhaft, ob es anderen Industriezentren Brandenburgs gelingt, sich gleichermaßen aus der Affäre zu ziehen. Etwa dem Cottbuser Braunkohlerevier, dessen Low- Tech-Abbau nur die EG-Quoten durcheinanderbringen würde oder der Schwedter Papierindustrie, die mit ihren Abwasserwerten von gestern die Oder belastet. Beides Randlagen, nicht nur geographisch.

Wiederum gerät der Polyp von 29.000 Quadratkilometer Brandenburg ins Bild: Berlin. Fast fünf Millionen Menschen im Großraum, 90 Kilometer Radius. Sein sogenannter „Speckgürtel“ beherbergt eine wirtschaftliche Potenz, die fast die Hälfte der alten DDR-Industrieproduktion ausmacht. Von der Verkehrserschließung her verlockend ist der doppelte S-Bahn- und Autobahnkreis rund um die Stadt. Wer an der Boomtown Anteil haben möchte, muß hier in den Ring steigen. Finanzielle Habenichtse wie die Anrainer- Kreise Oranienburg, Nauen und Königs Wusterhausen hoffen, von Berlins sozialer Infrastruktur wie Krankenhäusern und Schulen zu profitieren. Zudem verspricht die Gewerbe- aber auch Pendleransiedlung den armen Brandenburgern zum fiskalischen Füllhorn zu werden. Ein Problem, daß vor allem durch die Doppelexistenz des Landes Berlin sowie des Landes Brandenburg entsteht. Kaum anzunehmen, daß auch ein „vernünftig ausgehandelter“ Flächennutzungsplan die Zersiedelung des Berliner Umlandes auf Dauer verhindert. Die märkische Erde wird ihr Aussehen verändern, Brandenburgs Trittbrettfahrer werden ihre Tore öffnen, um aufspringen zu können. Was sagt uns der Zustand des Bodens über das Unwesen im Lande?