: Dumdiedeldum
Der letzte Run auf den goldenen Westen/ Kurz vor Einführung der Visapflicht für DDR und Westberlin wurde in Westpolen noch einmal kräftig verdient/ Warteschlangen auf dem Weg nach West-Berlin ■ Aus Warschau Klaus Bachmann
Unmittelbar vor der Einführung der Visapflicht für Polen bei Reisen in die dann ehemalige DDR und West- Berlin ist es zu einem gigantischen Ansturm auf die Grenzregionen Polens gekommen. Tausende von Händlern fuhren am Freitag bereits in Richtung Görlitz, Gubin und Stettin, um noch einmal das große Geschäft zu machen. In diesen zwei Tagen allein, so schätzt die Regierungszeitung 'Rzeczpospolita‘, habe Zgorzelec (der polnische Teil von Görlitz) 50 Millionen Zloty (10.000 DM) nur an Marktgebühren eingenommen. Der Umsatz mancher Händler, die in der Stadt Fahrräder, Trödel, Lebensmittel und Kleidung verkauft hätten, habe mehrere zehntausend Mark betragen. Der Marktplatz von Zgorzelec hat seine Fläche indessen verzehnfacht: Aus einem Hektar wurden zehn. Ein ganzes Krankenschwesterbataillon kümmerte sich um die 800.000 Deutschen, die in den letzten zwei Wochen die Grenze überquert haben — mehr, als im ganzen letzten Jahr DDR-Bürger in Polen waren.
Der Ansturm erklärt sich dadurch, daß die DDR-Bürger seit der Einführung der DM die grenznahen Regionen Polens zum Einkauf nutzen: Dort sind besonders Lebensmittel und Kleidung wesentlich billiger als in der DDR. Die Einreise ist unbürokratisch: DDR-Bürger müssen nur ihren Paß vorzeigen. Polen dagegen brauchen eine beglaubigte Einladung. Dem Handel tut das keinen Abbruch, man trifft sich eben hinter der Grenze, manchmal ist das wörtlich zu nehmen. In Gubin beginnt der Markt inzwischen direkt hinter dem Schlagbaum, was den Zöllnern schwere Bauchschmerzen bereitet. Allerdings haben sich polnische und deutsche Zöllner längst ihrem Schicksal er- und jegliche Versuche aufgegeben, das wilde Hin und Her noch irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Zufrieden sind damit im Grunde alle: Für die DDR-Bürger ist Polen ein Einkaufsparadies, und die Polen verdienen die begehrten Hartwährungsscheine. Noch vor wenigen Wochen gab es in Zgorzelec 3.000 Arbeitslose. Jetzt gibt es nur noch eine Handvoll: die Angestellten des Arbeitsamtes. „Noch ein wenig weiter so“, zitierten sie einen Händler, „und wir müssen Deutsche einstellen.“ Ähnliche Szenen gibt es in Stettin oder Gubin. Doch am Mittwoch wird alles vorbei sein.
Daher haben viele auch die letzte Gelegenheit genutzt, vor Schließung der Grenze noch einmal West-Berlin zu besuchen, vorwiegend, um sich mit billigen Hifi-Geräten aus Duty- free-Läden einzudecken. Die Schlangen waren so lang, daß die Läden ihre Preise um zweistellige Prozentsätze heraufsetzten. Auf dem Heimweg am Wochenende bildeten sich an den Grenzübergängen dann Schlangen mit bis zu 13 Stunden Wartezeit.
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