Das Geheimnis der Pfirsichdose

Nur 48.370 Neuerscheinungen in diesem Jahr — da lacht die müde Leserin. Denn das sind 4 Prozent weniger als 1989. Niemand hat erwartet, daß die allgemeine Klage über den unaufhaltsam wachsenden Bücherberg tatsächlich solche Folgen zeitigen würde.

In der Auswahl leisten wir Hilfestellung. Unsere RezensentInnen nahmen diese Aufgabe derart ernst, daß unter ihren strengen Augen das geduldige Papier nicht selten zitternd sich zusammenrollte. Aber auch ein Buch, von dem man sicher weiß, daß man es nicht lesen muß, ist ein Gewinn: es macht den Platz frei für ein anderes.

Messe-Thema ist Japan. So sind nur kalligraphierende oder lesende JapanerInnen auf unseren Photos zu sehen, nicht wenige allerdings mit einer Zeitung, nicht dem Buch in der Hand. Dieser Umstand verrät nichts über unsere Eitelkeit, aber vieles über den Stellenwert des Buches als Lektüreangebot: es rangiert als eines unter vielen, auch und gerade in Japan. Der taz-Korrespondent in Tokio hat sich dortselbst umgesehen und -gehört und kommt zu merkwürdigen Ergebnissen, die auf der nächsten Seite zu lesen sind.

Froh stimmen kann ein anderer Umstand: Die Zahl der Nachauflagen ist gestiegen, und zwar erstmals seit 39 Jahren. Die Halbwertzeit nicht weniger Bücher ist also länger als erwartet, und der Trend zum Mehrfachlesen wächst. Vielleicht trägt diese Tatsache dazu bei, die unfreiwillig erheiternde Prosa gutgemeinter Vereinigungen wie der „Stiftung Lesen“ zu entschärfen, die den Untergang des Buches als Zeichen für den Untergang des Abendlandes deuten: es dauert noch ein bißchen. Zu ihrem Trost sei Peter Bichsel zitiert, ein Autor, der sich vor allem als Leser versteht und daran festhält, daß das Lesen eine Sucht sei, die keine Wahl lasse zwischen Krankheitsschmerz und Krankheitsgewinn: „Es gibt so Leute, die glauben von sich, sie seien Leser. Sagen dann: ,Wissen Sie, ich bin Arzt. Ich hab keine Zeit zum Lesen.‘ Ich hab noch nie von einem Alkoholiker gehört: ,Wissen Sie, ich bin Arzt, ich habe keine Zeit zum Trinken.‘ Ich hab noch nie von einem Raucher gehört: ,Eigentlich rauche ich drei Schachteln am Tag, aber ich habe im Augenblick keine Zeit!‘ Und ein Süchtiger wird immer dafür sogen, daß er zu seinem Stoff kommt.“

Das Schreiben ist jedenfalls gefährlicher. Salman Rushdie lebt noch immer im Versteck; am vergangenen Sonntag wurde das erste Interview mit ihm seit der Morddrohung im englischen Fernsehen ausgestrahlt und in Auszügen auch vom deutschen Fernsehen übertragen. Für die Literataz schrieb Carmel Bedford, Sprecherin des International Committee for the Defence of Salman Rushdie and his Publishers freundlicherweise einen Arbeitsbericht. Auch das neue Buch von Salman Rushdie, erschienen bei Granta Books, wird rezensiert.

Ironischerweise beschloß das United Kingdom gerade an dem Tag die diplomatischen Beziehungen mit dem Iran wieder aufzunehmen, als „Haroun and the Sea of Stories“ in die Buchhandlungen gelangte und das Fernsehinterview angekündigt wurde. Der britische Außenminister Douglas Hurd äußerte in einem Brief, er verstehe, daß Rushdies Buch eine schwere Beleidigung für Moslems darstelle. Iran akzeptierte diesen Brief als Erfüllung iranischer Bedingungen für eine Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen. Douglas Hurd hatte seine Bemühungen um den Iran seit der Golfkrise verstärkt, da die britische Regierung mit Irak das letzte Land in der Region verloren hatte, zu dem sie noch diplomatische Beziehungen unterhielt. Für Salman Rushdie ändert diese „Normalisierung“ nichts. Die Morddrohung gegen ihn gilt mithin als „rein religiöse Angelegenheit“.

Zu jenem Datum, das derzeit deutsche Gemüter bewegt, sagen wir an dieser Stelle — nichts. Als Alternative zu dem japanischen Sprichwort auf der Titelseite wurde immerhin ein Brandtsatz von Wolfgang Neuss erwogen, nämlich: „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen“, nach intensiven Beratungen aber verworfen, was vor allem der Tatsache zu schulden ist, daß wir keine Jointraucher ausfindig machen konnten [aber hallo! d.L.]. Auf deutschem Boden darf jedenfalls keiner ein Buch für Bertelsmann schreiben, der strafrechtlich verfolgt wird. So hat der Konzern entschieden, die „Bekenntnisse und Einsichten“ des ehemaligen Geheimdienst-Chefs der ehemaligen DDR, Markus Wolf, doch nicht wie vorgesehen im Herbst zu drucken. Auch bei Bubi Scholz wurde wahrscheinlich gewartet bis zum Entlassungstermin. Wie beide zu ihren Einsichten gekommen sind, ist hierbei vermutlich zweitrangig. Wie sagt ein japanisches Sprichwort? „Der Tiger hinterläßt sein Fell, der Mann seinen guten Ruf.“

Es gibt Bücher, deren Schicksal interessanter ist als ihre Lektüre. Zu dieser Sorte gehören auch ein deutscher Bestseller über Japan und einer, der angeblich von süditalienischen Schülern verfaßt wurde. Ihre merkwürdige Entstehungs- und Vermarktungsgeschichte verfolgen Stefan Biedermann und Werner Raith auf diesen Seiten. Beide Geschichten werfen ein klares Licht auf das Genre des Feuilletons und seine Trübungen und seien allen empfohlen, denen grundsätzliche Verdächtigungen nicht genügen.

Bis zum Schluß beschäftigt hat uns die Funktion der geöffneten Pfirsichdose auf dem Titelbild. [Is'n Ascher für die Joints! d.L.] Mutmaßungen hierzu nimmt die Redaktion gern entgegen, vorzugsweise in der Form des Haiku. Eine Veröffentlichung in der nächsten Literataz am 17. November schließen wir keineswegs aus. In jedem Fall schon heute geht der Dank an alle tazler, die für die Entstehung dieser Literataz mit Kopf und Hand gesorgt haben: Petra Schrott, Isabel Lott und Michael Diedowicz von der Fotoredaktion, Richard Nöbel und (freischaffend) Gudrun Grundmann für den Satz, Anna Lazaridou und Claudia Mussotter für die Korrektur, Gabriele Alings (Scala Media) für die Anzeigen und vor allem Gabriele Warnke fürs Layout. Diejenigen, die wir vergessen haben oder nicht nachnamentlich kennen, finden Erwähnung am 17. November. „Kunst ist schön“, sagte Karl Valentin, „macht aber viel Arbeit.“

Die Buchmesse ist nicht zum Kaufen da, soll aber kurz- und langfristig dazu anregen. Wer damit hadert und überhaupt dem Neuen nicht mehr aufgeschlossen ist, kann sich vielleicht mit Peter Bichsel andersartig glücklich schätzen: „Ich würde keinen Finger rühren zur Rettung des Buches. Wenn's untergeht, geht's unter. Ich hab welche zu Hause. Mir kann nichts passieren.“ es