Der Nackenspoiler stirbt nicht aus!

■ Nirgendwo ist der Ost-West-Unterschied größer als bei den Frisuren der Fußballspieler (Fotos). Was setzt sich durch in Deutschland? Kurzhaar? Nackenspoiler? Ein historischer Kompromiß? Zwei Experten, zwei Meinungen. Exklusiv in der taz.

taz: Herr Mohneisen, Sie kennen das Äußere der Fußballer in der DDR und der Bundesrepublik. Es gibt ein eindeutiges Gefälle der Haarlänge von Ost nach West...

Mohneisen: Ihre Betrachtungsweise ist zu oberflächlich, das übliche Festhalten an Erscheinungsformen. Mit dem gängigen Ost-West-Schema ist das Problem nicht zu fassen. Gefordert ist hier die historisch-materialistische Methode.

Wie bitte?

Sicher doch. Die Frisur als konkreter Ausdruck der Klassenzugehörigkeit.

Das müssen Sie uns erklären.

Der individuelle Haarschnitt des Fußballers ist die subjektive Objektivierung seines gesellschaftlichen Tätigkeitszusammenhangs.

Konkret?

Die Frisur, die wir im proletarischen Milieu als den sogenannten Nackenspoiler [Fotos markiert, Anm.d.Red.] kennen, findet sich mitnichten nur in Rostock oder Erfurt, sondern ebenso im Ruhrgebiet oder dem Hamburger Hafen. Schauen Sie sich dort um, zum Beispiel unter jungen Elektrikern oder Stablerfahrern. Der Nackenspoiler ist dort selbstverständlicher Teil der Alltagskultur.

Gut, aber wir schauen in die 1. Bundesliga, und finden dort nichts als kurze Haare und Goldkettchen [Fotos markiert ; Anm.d.Red.].

Ihre empirische Bestandsaufnahme ist richtig und verifiziert meinen Ansatz. Die meisten der Spieler kommen aus proletarischen Verhältnissen. Mit der Unterschrift unter ihren Profivertrag verabschieden sie sich in die Einkommensklasse der gehobenen Angestellten, und das findet seine logische Entsprechung in der äußeren Form.

Als Franz Beckenbauer das Training der Nationalmannschaft übernahm, hat er gesagt: Ich brauche keine Spieler, die im schicken Wagen und Goldkettchen daherkommen, sondern solche, die richtig hinlangen können...

...und jetzt war eine seiner ersten Amtshandlungen als Direktor von Olympique Marseille, wie Sie lesen konnten, die ganze Mannschaft mit Maßanzügen auszustatten.

Wie ist das zu interpretieren?

Fußball hat seine historischen Wurzeln in der Arbeiterklasse. Bei der besseren Gesellschaft in Englands frühindustrieller Phase war dieser Sport verpönt. Was Beckenbauer unbewußt forderte, sind traditionelle proletarische Tugenden wie Kampf und Solidarität. Gleichzeitig verlangt er, der ja am eigenen Leib den Weg vom Sohn eines kleinen Postbeamten zum mehrfachen Millionär durchlebt hat, ein äußeres Bekenntnis zur neuen Klasse. Diesen antagonistischen Widerspruch kann er nicht auflösen.

Das klingt uns doch sehr theoretisch.

Dann will ich Ihnen das an aktuellen Beispielen verdeutlichen. Die Spieler Andreas Thom und Ulf Kirsten sind von Dynamo Berlin und Dynamo Dresden zu Bayer Leverkusen gewechselt. Beide hatten vorher Spitzenspoiler, und heute? Nackter Nacken, furchtbar.

Herr Mohneisen, wir dürfen aus ihrem Werk „Simson. Kraft im Schopf“ zitieren: „Die materialistisch-historische Methode ist eine Methodologie mit großer Verifizierungsfähigkeit und zugleich prognostizierender Aussagekraft.“ Konkrete Frage: Landet der Nackenspoiler auf dem Müllhaufen der Geschichte?

Unfug. Von den gesamten DDR- Vereinen werden ganze zwei im kommenden Jahr in der 1. Bundesliga mitspielen dürfen, gleichsam die Klasse verlassen, zusammen vielleicht 40 Mann. Alle anderen werden pauperisiert, erwarten die soziale Deklassierung vom bezahlten Staatsamateur zum Amateurkicker mit normalem Beruf.

Kurz: Der Spoiler lebt?

Er wird lebendig bleiben, in der Bezirks- und Kreisklasse — hier haben wir die Klasse wieder —, im gesamten deutschen Territorium. Und die Bundesliga wird weiterhin voll sein mit diesen, lassen Sie mich einmal emotional werden, gestanzten Angestelltenvisagen, die ihre Wohlstandtsmerkmale am Hals tragen.

Hans-Werner Mohneisen, wir danken für diesen Hoffnungsschimmer. Interview: Schießl/Thömmes