Linker Katzenjammer—ein Jahr nach der Revolution

■ Rückblick auf ein umwälzendes Jahr, in dem die westdeutsche Linke die Geschichte immer weniger verstand/ Abschied von der Utopie als sicherem Ort Das Volk und das „Volk“ — das Ende des realen Sozialismus als Ende vom Experiment am lebendigen Leibe/ Was es am 3.Oktober zu feiern gibt

Die mitteleuropäische Geschichte hat im letzten Jahr keine Atempause gestattet. Die Nachkriegszeit ist beendet, Deutschland ist — in den Grenzen von 1990 — ein souveräner Bundesstaat, dessen Armee erheblich verkleinert und angriffsunfähig gemacht werden soll; mit dem Untergang der DDR und den demokratischen Umwälzungen in Polen, der CFSR und Ungarn ist der Warschauer Pakt zerfallen. Die Sowjetunion schließlich tritt jahrzehntelang als Gral gehütete Rechte und Bedingungen für einen zweistelligen Milliardenbetrag ab und hofft, die neue, größere Bundesrepublik werde ihr auf dem Weg ins „europäische Haus“ behilflich sein.

Sowjetsoldaten auf deutschen Müllkippen

Die Sieger von gestern als Bittsteller von heute, die besiegte faschistische Bestie, der Brückenkopf des US-Imperialismus in Europa, in der Rolle des Doktors am Krankenbett des Kommunismus, der mit Kapitalspritzen und marktwirtschaftlichem Rat helfen soll, die sozialökonomische Katastrophe des zerfallenden Riesenreiches zu verhindern — ein atemberaubendes Szenario. Fernsehbilder von Sowjetsoldaten, die auf Müllkippen in der DDR nach Gegenständen suchen, die sich für D-Mark verkaufen lassen, sagen mehr über die neue europäische Wirklichkeit als Debatten über die Frage, ob Marx nun tot sei und das Ideal des Sozialismus unsterblich. Brotmangel in Moskau und Tausende von Tonnen erntefrischer Tomaten, die auf den Feldern oder beim Transport verrotten, Hunderttausende Sowjetbürger, die wie zu Nachkriegszeiten mit dem Rucksack unterwegs sind, um Eßbares aufzutreiben — das ist nur ein Bruchteil der schockierenden Bilanz 72 Jahre nach der Oktoberrevolution. Sie verweist auf die völlige Unfruchtbarkeit jener „Systemdiskussion“, deren Begriffshülsen die Wirklichkeit weder erfassen noch theoretisch erklären konnten.

Linke Träume vom Volk

Bis heute ist es einer großen Zahl fortschrittlicher Menschen in der SPD, bei den Grünen, in Gewerkschaften, linksradikalen Splittergrüppchen und Politologie-Seminaren ein tiefes Rätsel und ebensolche Schmach, daß die Bevölkerung der DDR —ganz ohne revolutionäre Anwartschaft und theorielos agierend— den „real existierenden Sozialismus“ als absurden Alptraum abschüttelte, die kapitalistische Marktwirtschaft zum konkurrenzlosen Modell erhob, Kohl wählte und auch noch das „einig Vaterland“ auf ihre Fahnen schrieb.

„Daß die Mauer fällt und die Konkursmasse der DDR durch Wiedervereinigung übernommen werden könnte: dieser westliche Traum ist zunächst einmal ausgeträumt. Die Massen von Ost-Berlin, von Leipzig, von Dresden, die nicht nur ,Wir sind das Volk‘ rufen, sondern auch so handeln, haben sich aufgemacht in eine zukünftige Gesellschaft“ — diese Einschätzung des taz-Kommentators Klaus Hartung nach der Großdemonstration am 4.November 1989 auf dem Alexanderplatz teilten auch solche Linke, die meinten, vor Illusionen gefeit zu sein. Christa Wolf hatte sich den Transparentspruch „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner läuft weg!“ zu eigen gemacht, und selbst der Bürgerrechtler Wolfgang Templin sah die Wiederentdeckung des „ganzen Erbes des Sozialismus“ in der DDR voraus.

Die kurze „revolutionäre Phase“ zwischen Anfang Oktober und Mitte Dezember 1989 schien die Chance für einen „Leipziger Frühling“, für eine wahrhaft demokratische Umwälzung zu bieten, die aus der DDR eine souveräne zweite deutsche Republik machen könnte. Doch als dem von Stefan Heym, Volker Braun und Christa Wolf Ende November initiierten Aufruf „Für unser Land“ für die Eigenständigkeit der DDR als „sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ sich der noch amtierende SED-Generalsekretär Egon Krenz anschloß, entpuppte sich das, was als Signal zum Aufbruch sein sollte, schon als letzter Appell. Die Hiobsbotschaften über die ökonomische und ökologische Katastrophe machten das ganze Ausmaß der gesellschaftlichen Krise deutlich. Lakoongleich hatte der Runde Tisch mit tausend Herausforderungen gleichzeitig zu kämpfen. Als der Versuch der Modrow-Regierung mißlang, aus der Stasi die Nasi zu machen, war das Schicksal der DDR besiegelt. Die DDR-Wirtschaft bewegte sich auf den Kollaps zu, und es begann ein Pingpongspiel zwischen Helmut Kohl und der Mehrheit der DDR-Bevölkerung: Er wollte Kanzler aller Deutschen werden, und sie wollten „ihre DDR“ so schnell wie möglich loswerden und endlich — und am besten gleich morgen — in westlichem Wohlstand aufwachen.

Das Gewicht von 40 Jahren Realsozialismus

Im Wahlsieg der CDU bei den ersten freien Volkskammerwahlen seit 40 Jahren am 18.März 1990 zeigte sich noch ein anderer Zusammenhang: Das Gros der DDR-Deutschen neigt zur Verdrängung der eigenen Täter- und Opfergeschichte als brave, häufig beflissene Untertanen; die Westdeutschen, zumal die Linksliberalen und Linken aber hatten das politische und sozialpsychologische Gewicht von 40 Jahren realsozialistischem Totalitarismus sträflich unterschätzt, hatten vergessen, daß historische Zeitspannen auch persönliche Lebenszeit sind. Das Wort vom „sozialistischen Experiment am lebendigen Leibe“ ist keine Erfahrung von Gerhard Löwenthal.

Während Kohl schon die Währungsunion vorbereitete, beharrten Linke und Grüne auf der Zweistaatlichkeit. Günter Grass sagte: „Die Geschichte hat es uns auferlegt, daß wir in zwei Staaten leben.“ Große Teile der Linken (auch innerhalb der Grünen) pflegten ihre Projektionen: Sie verbreiteten ihre Version vom „kapitalistischen Ausverkauf“ der DDR und vom „nationalen Taumel“, der die Deutschen auf ihrem Weg zur „Wiedervereinigung“ erfaßt habe. Der 3.Oktober 1990 wird so für viele deutsche Linke ein Tag der Trauer und der Wut, aber auch der Bestätigung und Rechtfertigung eigener Überzeugungen sein: „Nie wieder Deutschland!“ war und ist die Parole all jener, die glaubten, die faschistische Grunddisposition der Deutschen — seit Auschwitz für immer erwiesen — gestatte ihnen nicht die Inanspruchnahme der völkerrechtlich garantierten Selbstbestimmung. Deshalb ist für viele die „radikale Opposition“ gegen dieses „neue Deutschland“, das sie als großdeutsches oder „Viertes Reich“ bezeichnen, das Gebot der Stunde. Ihre Flucht in die Arme der PDS ist nur logisch und konsequent, denn tatsächlich hat die Staats- und Stasi-Partei der DDR, die SED Ulbrichts und Honeckers, immerhin 40 Jahre dafür gesorgt, daß es ein „sozialistisches Vaterland“ gab, welches sich dem „Großmachtanspruch der westdeutschen Bourgeoisie“ bis zur Selbstzerstörung widersetzte.

Wie Stefan Hermlin, Christa Wolf, Stefan Heym und andere glaubten viele Linke, das virtuell bessere Deutschland sei dort aufgehoben, wo die Möglichkeit seiner sozialistischen Überwindung, der revolutionären Bändigung der Bestie, zu bestehen schien. Exakt diese Haltung war eine der ideologischen und psychologischen Quellen für den Wahn von der stets und überall bedrohten Staatssicherheit. Selbst Lieder eines jungen Künstlers mußten deshalb die Gestalt des Hochverrats annehmen: Dem Volk war nichts und doch alles zuzutrauen. Wolf Biermann greife in die Saiten seiner Gitarre, „um gehässige Strophen gegen unseren antifaschistischen Schutzwall erklingen zu lassen“, blies etwa der frühere stellvertretende DDR- Kultusminister und jetziges Präsidiumsmitglied der PDS, Klaus Höpcke, im SED-Parteiorgan 'Neues Deutschland‘ zum Halali. Große Teile der westdeutschen Linken, die in der Vergangenheit nie versäumten, die „Interessen der Bevölkerung“ und „des Volkes“ zu artikulieren, demonstrierten ihre ganze Verachtung für dasselbe, als es sich in der Prager Botschaft zusammengerottet, die Ausreise erzwungen und sich am Ende vor allem für Jeans und Bananen begeistert hatte: „Konsumgeile Idioten“ war noch das geringste, was der ideologiekritischen Analyse entschlüpfte. Selbst nach Monaten eingehenden Studiums bestand für westdeutsche Intellektuelle (siehe Sammelband Gemeinsam sind wir unausstehlich, Berlin 1990) die Bevölkerung Osteuropas aus einer „gierig ellenbogenstoßenden und geifernd-gesichtslosen Masse ohne eigene Subjektivität“. Wolfgang Pohrt macht sich gar schwermütige Gedanken über das „deutsche Wesen“, dessen vorherrschender Zug die „Selbstdestruktivität“ sei: Die Deutschen könnten nicht ruhen, bis alles in Scherben liege. Angesichts dieser phylogenetischen Gesetzmäßigkeit deutscher Verderbnis hält es die „radikale Linke“ lieber mit Stefan Hermlin, der noch 1987 die konkrete Utopie als seine „Heimat“ DDR beschrieb, „weil sie das Stück Deutschland ist, in dem man Ideen zu verwirklichen trachtet, die mir, seit ich ihnen als Kind begegnete, die edelsten, die menschlichsten zu sein scheinen“. Auch wenn sich das alles als großer Irrtum, als Jahrhundertillusion erweist, behält es seine Anziehungskraft für jene, die von der Unabdingbarkeit der Revolution und der Unzerstörbarkeit der sozialistischen Utopie überzeugt sind. Gerade weil die Realität den revolutionären Anforderungen nie gerecht wird, strahlt die Utopie, im Wortsinne der „Nicht-Ort“, desto heller.

Gregor Gysi und das unsterbliche Ideal

Gregor Gysi ist der Hohepriester des seit Jahren darbenden Revolutionschores. Seine Mischung aus durchaus „westlicher“ Medienrhetorik und dem originären Ossi- Touch, dem herben Zug unverfälschter Geschichtlichkeit, läßt vergessen, daß der Bauchladen zwischen soziologischem Proseminar und der Semantik des Otto-Kataloges — „pro bono contras malum“ — auf dem Niveau avancierter Strategiepapiere von Juso-Kongressen der siebziger Jahre rangiert. Er bedient das Bedürfnis nach Transzendenz und scheinbarer Eindeutigkeit, den Wunsch nach einem — jetzt aber wirklich! — richtigen, sauber-sanften Sozialismus, der niemandem weh tut und allen wohl. Gysis Wahlkampfleiter André Brie bringt diese Sehnsucht auf seinen paradoxen (eben nicht: dialektischen) Kern, wenn er das Bonmot vom „nichtsozialistischen Sozialismus“ gebraucht. Gysi selbst vergleicht das „unsterbliche Ideal des Sozialismus“ mit dem Christentum, das ja auch von Hexenverbrennungen und Inquisition nicht zerstört wurde, und erinnert damit an ein unverzichtbares Element auch des modernen linken PDS-Sozialismus: den richtigen Glauben.

Die rasent schnelle Wandlung der SED zur PDS bedeutet die Metamorphose vom Täter zum Opfer — verfolgt, verfemt, verraten —, kommt den westdeutschen Linken entgegen, deren Identität trotz aller Taten immer schon an die Opferrolle geknüpft war. Die damit verbundene Exkulpation vor der realen Geschichte, mit deren Opfern — Juden, gescheiterte und ermordete Revolutionäre, die Dritte Welt, ethnische Minderheiten, verfolgte Oppositionelle etc. — man sich stets identifiziert hat, bedeutet im aktuellen Fall jedoch die Identifikation mit dem Täter. Nicht zufällig sind Staatsterror, alltägliche Repression und sozialökonomischer Zerfall in der DDR weder jetzt noch in der Vergangenheit Thema der „radikalen Linken“ gewesen.

„Die altgewordenen Politjugendlichen suchen nie den Ort der Tragödie auf und kommen daher nie auf ihr Niveau“, konstatiert der Grüne Bernd Ulrich. Tatsächlich erfordert die Reinheit des Opferstandpunktes eine abstrakte Radikalität, die in den vergangenen Monaten nichts weiter war als die Flucht vor der Wirklichkeit, ein hilfloser Zynismus zum Zwecke der intrapsychischen Selbststabilisierung des ohnmächtigen revolutionären Subjekts.

1968 ist zu Ende

Die politische Erstarrung weiter Teile der Nach-68er-Linken bis hin zur Gleichgültigkeit der urban aufgeklärten neuen Mittelschichten hat es Kohl erleichtert, mit der Kraft der D-Mark, Tempo und Fortune Geschichte zu machen. Der Hinweis darauf, daß dabei haufenweise Takt, parlamentarische Vorrechte, demokratische Grundsätze und verfassungsrechtliche Bedenken der exekutiven Macht geopfert wurden, half der linken Opposition jenseits der SPD, die den Anschluß verloren hatte, nicht zu einem politischen Konzept. Mit dem 9.November 1989 rutschte der „scheinbar so solide Boden unter den Füßen weg“, wie Patrick Süskind schreibt. „Wo früher eine öde Wand stand, der wir nach Möglichkeit den Rücken kehrten, war nun eine ungewohnte, zugige Perspektive aufgetan, und verdattert wie die Kühe, denen man ein lang verschlossenes Gatter aufsperrt, standen und stehen wir da und glotzen in die neue Richtung und scheuen uns, sie einzuschlagen.“

Was es am 3.Oktober zu feiern gibt

Schock und Abwehr saßen — und sitzen — tief. Erst wenn die rückwärtsgewandten linken Beschwörungsformeln, die die deutsche Geschichte, einschließlich Auschwitz, gerade nicht reflektieren, sondern zum Fetisch einfrieren, durch die Erkenntnis der historischen Herausforderung abgelöst werden, können auch die Chancen dieses Augenblicks wahrgenommen werden.

Der Abschied von dem „faden, kleinen, ungeliebten, praktischen Staat Bundesrepublik Deutschland“ macht nicht nur Patrick Süskind „ein wenig traurig“. Zwei Drittel der (West-)Bundesbürger lehnen persönliche finanzielle Opfer für die deutsche Einheit ab und beweisen damit jene berüchtigte Kassenwart- Nüchternheit der Deutschen, die am ehesten noch vom rechten Fuße des Lothar Matthäus zu kurzfristiger Begeisterung hingerissen werden kann.

Wie „neu“ das neue Deutschland werden wird, wie viel es von seiner westdeutschen Demokratieerfahrung alias „Zivilität“ und dem ostdeutschen Primärerlebnis, ein totalitäres Regime gestürzt zu haben, profitieren wird, weiß heute, da die „Altlasten“ und Befürchtungen dominieren, niemand. Daß es aber am 3.Oktober 1990 jenseits aller offiziellen Feierlichkeiten — ob mit oder ohne Glockengeläut — auch Grund zu wirklicher Freude gibt, ist für jeden gewiß, der sich in diesen Tagen noch einmal die Lieder Wolf Biermanns aus den sechziger und siebziger Jahren zu Gemüte führt. Es lebe die Freiheit!

Reinhard Mohr, Frankfurt