: »Amnestie wann — wenn nicht jetzt«
■ Gefangenensprecher aus Rummelsburg sprach sich auf einer Gesprächsrunde mit Justizsenatorin Limbach für eine weitreichende Amnestieregelung aus/ Das angestrebte Überprüfungsverfahren würde nach Ansicht der Gefangenen aber zu lange dauern
Berlin. Die Knackis in den Strafanstalten der vorgestern verstorbenen DDR werden sich nicht mit der von der Volkskammer vergangene Woche beschlossenen Amnestieregelung abfinden. Das machte der Gefangenensprecher der Strafanstalt Rummelsburg, Jens Trier, bei einer Diskussion mit dem Titel Amnestie wann — wenn nicht jetzt der Vereinigung Berliner Strafverteidiger deutlich. Für die ostdeutschen Gefangenen ist die Amnestie halbherzig. Nur etwa ein Drittel von ihnen wäre von der Regelung betroffen, die vor allem auf Aktenprüfung im Einzelfall und Strafzeitminderung nach westdeutschen Maßstäben abzielt. Bei der Diskussion, bei der unter anderem auch die Westberliner Justizsenatorin Limbach teilnahm, wurde aber deutlich, daß es zur Zeit keine Alternative gibt. Eine Initiative für eine gesamtdeutsche Amnestie aus Anlaß der Wiedervereinigung, die Frau Limbach vorgeschlagen hatte, wurde vom Bundesrat vertagt.
Zwar dürften die ostdeutschen Gefangenen über den Umstand nicht traurig sein, daß sie mit ihren Protestaktionen und Forderungen eine gesamtdeutsche Diskussion über Strafvollzug und Amnestie ausgelöst haben. Aber die wird dauern, und mit Hoffnungen und guten Vorsätzen ist so schnell nicht zu erfüllen, was die Gefangenen einklagen. Sollte es wirklich dazu kommen, daß die Akten und Urteile nach westdeutschen Rechtsmaßstäben überarbeitet und geprüft werden, bestünde zwar die Chance, daß die Strafzeiten, die wesentlich über dem bundesdeutschen Schnitt liegen, gesenkt werden.
Die Gefangenen meinen, daß sie schon zuviel Zeit in den Knästen verbracht haben; hinzu kommt auch weiterhin die Ungewißheit für viele von ihnen. Sie unterstellen nämlich, daß in der DDR die meisten aller Straftaten in direktem Zusammenhang mit dem Unrechtssystem ihrer alten Heimat stehen und somit fast alle einen »politischen« Ursprung haben. Das alte Beispiel vom Scheckbetrüger, der damit seine Republikflucht bezahlen wollte, machte auch in der Diskussion die Runde. Weil aber in den Urteilen und Akten, insofern sie überhaupt noch vollständig erhalten sind, meist auf etwaige politische Hintergründe einer Tat gar nicht eingegangen wurde, ist es heute beinahe unmöglich, die wahren Motive des Straftäters zu erkennen.
»Tor auf und alle rauslassen«, wie von Jens Trier gefordert, das wollte und konnte die Justizsenatorin aber nicht unterstützen. Sie verwies auf die rechtsstaatliche Überprüfung aller Urteile durch die westdeutsche Staatsanwaltschaft und versprach, daß ihre Behörde unter Volldampf diese Aufgabe bewältigen werde. Für Jens Trier, dessen Haftstrafe 1997 endet und der am nächsten Tag um neun Uhr wieder in seiner Rummelsburger Zelle sein mußte, war das aber nicht genug. Er verwies auf 10.000 Stasi-Offiziere, die meist mit selbstgeweißter Akte unbehelligt draußen rumspazieren, und auf die Mitglieder des Politbüros, die plötzlich alle »haftunfähig geworden sind«, obwohl deren Straftaten ganz andere Dimensionen gehabt haben.
Auch in den Westberliner Knästen herrscht gespannte Stimmung und hoffnungsvolles Warten auf eine eventuelle »Einheitsamnestie«. Im Haus2 der Strafanstalt Tegel wollten Gefangene letzte Woche einen Hof besetzen. Wieder »zu Hause«, wollte sich Jens Trier jedenfalls mit seinen Freunden vom republikweiten Gefangenenrat kurzschließen, um dann mit weiteren Protestaktionen das Tor zum neuen Deutschland endgültig aufzustoßen. Torsten Preuß
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