: Der Flug zurück in die Einheit
■ CC Malzahn erlebte den »historischen Augenblick« in einer Höhe von 30.000 Fuß/ Das Goethe-Institut Toronto hatte zu einem Symposium über Deutschland geladen
Toronto/Berlin. Captain Himmler gab sich alle Mühe: »Dieser Flug ist eine Weltpremiere!« Just in diesem Moment werde am Brandenburger Tor die Fahne aufgezogen, dann seien die beiden Deutschländer wieder vereinigt. Die meisten Gäste des Lufthansa-Flugs von Toronto nach Frankfurt hielten die »historische Stunde« jedoch für ungenügend inszeniert — nicht mal Sekt gab's — und verweigerten den Applaus. Erst als er seine kleine Ansprache in englischer Sprache wiederholte, klatschten zwei Nordamerikaner höflich in die Hände, — hielten aber sogleich wieder inne, weil sie die einzigen »Jubelnden« blieben.
Die Boeing ist vollkommen ausgebucht, fast alle wollen nach Berlin. Da erst fängt die Party an, soll ja auch eine tolle Stadt sein: Die Menschen dort fallen sich seit etwa einem Jahr immer wieder in die Arme, trinken nachts um zwölf Uhr Sekt, vergießen beim Wiedersehen Freudentränen über verlorengeglaubte Söhne und sind meistens »really happy about the unification«. Ein wenig Sorgen machen sie sich wegen der Arbeitslosigkeit. Aber »wenn es ein Volk in der Welt gibt, das dieses Problem lösen kann, dann sind es die Deutschen«, erklärt ein kanadischer Geschichtsprofessor in einer »morning show« im Fernsehen.
Ein bißchen von der Berliner Mauer soll auch noch übrig sein, Hammer und Meißel sind im Gepäck. Je weniger »wall« in Berlin vorhanden ist, desto astronomischere Summen werden in Toronto, San Francisco oder New York für »wall-pieces« verlangt. Dabei kann man gar nicht mal sicher sein, daß die Mauerteile echt sind. »They sell everything in New York, even the Brooklyn Bridge!« meint ein kanadischer Taxifahrer.
Die Chancen für einen Touristen, der sich um den 3. Oktober herum das Brandenburger Tor anschaut, live ins amerikanische oder kanadische Fernsehen zu kommen, sind zur Zeit größer als zu Hause. Fast jeder Millimeter Berlins ist mittlerweile abgefilmt worden, als würde ein Monumentalfilm gedreht. In der Story liegt ja auch alles drin: Liebe, Schmerzen, Schicksal. Auch »the autonomen« spielen eine Rolle — »bad guys«, die für Spannung und unberechenbare Momente sorgen. Ansonsten hat die 'New York Times‘ die Deutschen vor ein paar Wochen endgültig rehabilitiert: »They're nice people«, hieß es da, und da man sich selbst auch zu dieser Kategorie von Leuten zählt, braucht man keine Angst mehr zu haben. »Ich freue mich wirklich für Sie!« meint ein etwa 20jähriger Jeansverkäufer und gratuliert per Handschlag zur Wiedervereinigung. »Wieso eigentlich?« frage ich zurück — da schaut der Mann mich an, als ob ich gerade seinen Laden überfallen wollte.
Zum Symposium über »The Re-Shaping of Germany« versammelt sich die deutsche »community« Torontos. Während in Deutschland entweder die Rechten oder die Linken zu solchen Diskussionen erscheinen, sitzen dort die ewigen Schlesier friedlich neben den intellektuellen 68er-Profs, die einen Lehrauftrag in Kanada bekommen haben. Mit dem »2+4-Ergebnis« sind beide Gruppen unzufrieden: Die einen trauern um die Ostgebiete, die anderen fürchten sich vor einem neuen Großdeutschland. Seltsamerweise hoffen alle auf den europäischen Einigungsprozeß: die »Vertriebenen«, weil beim Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums möglicherweise doch noch was für Deutschland abfallen könnte, die »Emigranten«, weil sie ein starkes Europa für das beste Mittel gegen deutsche Großmannssucht halten. Für endgültig geklärt hält die deutsche Frage hier niemand.
Drei Millionen Menschen leben in Toronto, und es scheint, als hätte jede Nation der Welt eine Vertretung geschickt. Die Italiener stellen die Mehrheit der Einwanderer, dann folgen die Chinesen, Portugiesen, Griechen, Polen und Japaner. Die »communities« bleiben hübsch unter sich und lassen sich gegenseitig in Ruhe. Die Polizei in Toronto war vor kurzem massiver Kritik ausgesetzt, als sie nach einer Überfallserie in Chinatown keine Übersetzer oder chinesischsprechende Kommissare (!) eingesetzt hat. Welcher Berliner Beamte kann türkisch?
Alle reden über Deutschland, alle wollen mal hin. In einem Cartoon des 'New Yorker‘ klettert ein Amerikaner einen Berg in Asien hinauf, um mit einem weisen alten Mann zu sprechen. Als er wieder runterkraxelt, ist er arg frustriert. »Was hat er gesagt?« wird er im Tal gefragt. »I don't know. It was all in german.« Fast jeden Tag bringen die Fernsehstationen und Zeitungen Berichte aus Berlin. Die Deutschlandberichterstattung ist auf ihrem Zenit, die vor einem Jahr noch fast untätigen Auslandsredakteure der amerikanischen und kanadischen Medien ackern rund um die Uhr. Für Ende des Monats rechnen die Journalisten mit einem Knick. »Dann ist ‘Deutschland‚ gelaufen und der ‘Golf‚ kommt dran«, meint ein Kollege. »Wird es Krieg geben?« frage ich einen kanadischen Luftwaffenpiloten, der in Toronto gerade einen Lehrgang absolviert und in der Hotellobby seinen Kaffee trinkt. »Klar!« meint der. »Ende Oktober. Wir wissen bloß noch nicht, wie wir anfangen sollen.«
Die Bekanntgabe der Einheit erfolgt in einer Höhe von 30.000 Metern. Alles bleibt ruhig. In der Clipper Class schläft der Dalai Lama — auch er will nach einem Kanadabesuch nach Berlin — und träumt von der Wiedergeburt Deutschlands. Ob es ein Alptraum war, hat er mir nicht verraten. Claus Christian Malzahn (nach Diktat gelandet)
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