Heroischer Antiheroismus

■ Zum Tod des tschechischen Philosophen Milan Simecka

Das furchtbarste“, schrieb Milan Simecka kurz vor der demokratischen Revolution in der Tschechoslowakei, „am Zersetzungsprozeß Osteuropas ist, das die historische Identität verloren geht, daß den Jüngsten die Taten dreier Generationen wie das Wüten von Wahnsinnigen und Feiglingen erscheint.“

Simecka, der Pholisoph, Schriftsteller und Lehrer hat noch lang genug gelebt, um in seiner slowakischen Wahlheimat Bratislawa den 20jährigen das Unbegreifliche verstehbar zu machen: daß fast ein ganzes Volk in vollem Bewußtsein seines Irrtums über zwanzig Jahre „in irgendeiner Starre und Abgestumpftheit sich in der falschen Richtung immer weiter schob“. Simecka hat in den 70er Jahren über diese Prozesse der Anpassung eine Studie geschrieben, der sich in Osteuropa nichts an die Seite stellen läßt. In Die Wiederherstellung der Ordnung, 1978 im Samizdat erschienen, analysiert er den Zwiespalt zwischen der Sphäre der Öffentlichkeit, wo der realsozialistische Bürger seine politische Steuer in Form von Loyalitätsbezeugungen entrichtet und der privaten Welt, in der er ungehindert die oft virtuosen Techniken der Existenzbewältigung praktizieren kann. Aber diese Anpassung war oberflächlich. Sie war ein unerklärter Vertrag, der jederzeit gekündigt werden konnte — sie führte nie zur Verinnerlichung der Privatheit. Wütend und ohnmächtig spürten die Menschen den Verlust ihres öffentlichen Gesichts. Simecka hat wie sonst nur noch Gyorgy Konrad in seinen Essays, den Zauberkreis der Absurditäten beschrieben, in dem der realsozialistische Alltag spielt. Aber er, der seine politische Haltung mit Gefängnis, Berufsverbot, Ausbildungsverbot für seine Söhne und schwerer Krankheit bezahlte, hat sich nicht einen Augenblick über seine Landsleute erhoben.

Er wollte kein Held sein und war auch keiner. Er wollte nur für den Rest seines Lebens eine gute Meinung von sich haben.

Simecka war in seiner Jugend Kommunist gewesen. Später gehörte er mit Jaroslaw Sabata und Milan Kundera jenem Brünner Freundeskreis an, der sich daranmachte, der „verlorenen Tat“, d.h. der Beteiligung am Aufbau eines Unterdrückungsregimes, nachzujagen. Damals arbeitete Simecka an einer Kritik des utopischen Denkens, wurde Philosophieprofessor an der Kunstakademie in Bratislava, engagierte sich für den Kurs der demokratischen Erneuerung und blieb dabei — auch nach der Okkupation. Simecka beging nie den Fehler, die „tabula rasa“ im kulturellen Leben der CSSR nach 68 den sowjetischen Besatzern anzulasten. Das brachte ihn in Gegensatz zu Milan Kondera und dessen selbstgerechter These vom “gekidnappten“ Ostmitteleuropa . Er bestand darauf, daß das “geistige Biafra“ unauslöschliche lokale Markenzeichen trug. Für Simecka gehörte das sowjetische Rußland zum europäischen Kulturkreis und ihm war als einem der ersten die Rückwirkung der Perestroika auf die Machtverhältnisse in der CSSR klar geworden. Er warnte aber seine Landsleute, ihm so zu vertrauen wie seiner Zeit die Tschechen Josef dem Zweiten, dessen aufgeklärter Absolutismus die Hoffnungen eines kleinen Volkes hochmütig beiseite schob. Simecka hat in den demokratischen Revolutionen des Jahres 1989 Bedürfnisse am Werk gesehen, die über die Sehnsucht nach materieller Besserung hinausgingen. In der neu entdeckten Leidenschaft für Europa sah er die Möglichkeit, beides, eine auf Gewaltlosigkeit und der Achtung der Menschenrechte basierende Vision und den Wunsch nach anständigen Lebensverhältnissen, zu vereinbaren. Die Tschechoslowaken müssen seine Hilfe auf diesem beschwerlichen Weg jetzt entbehren. Völlig überraschend ist er zu Anfang letzter Woche an Herzversagen gestorben. Christian Semler