Nomade im Eigenen und Fremden

■ Zum Tod des Ethnologen und Schriftstellers Michel Leiris

Ist das, was auf dem Gebiete der Schriftstellerei vor sich geht, nicht jeden Wertes bar, wenn es ,ästhetisch‘ bleibt, harmlos und straffrei? Wenn es in dem Vorgang ein Werk zu schreiben, nicht etwas gibt, das (und hier schiebt sich eines der dem Verfasser besonders teuren Bilder ein) — etwas, das dem entspräche, was für den S t i e r k ä m p f e r das spitze Horn des Stiers ist? Denn einzig und allein diese materielle Bedrohung verleiht seiner Kunst eine menschliche Realität und bewahrt sie davor, nichts weiter zu sein als eitle Grazie einer Ballerina.“

In seiner Autobiographie „Mannesalter“ (1938, deutsch 1968) hat Michel Leiris diesen Anspruch an Literatur eingelöst: Selten wohl hat sich ein Autor mit so schonungsloser Radikalität beobachtet, preisgegeben, seine seelischen und sexuellen Schwächen bloßgestellt. Eine Offenheit die nicht Selbstzweck, sondern Mittel war, „wenigstens den Schatten eines Stierhorns“ in sein Werk einzubringen. Am vergangenen Sonntag ist der Ethnologe, Dichter und Essayist in Saint-Hilaire bei Paris gestorben.

Michel Leiris, 1901 geboren, stieß 1924 über den Maler André Masson zum Kreis der Surrealisten: er schreibt Gedichte, Künstler-Porträts und Essays. Doch schon bald trennt er sich, zusammen mit Georges Bataille und anderen, von dem „dogmatischen“ Kern um André Breton und wendet sich ethnographischen Arbeiten zu. 1930 erscheint in der von Bataille edierten Zeitschrift 'Documents‘ ein Aufsatz, dessen Titel benennt, was neben der radikalen Selbstbeobachtung als zweiter Angelpunkt im Werk des Künstler-Wissenschaftlers Michel Leiris gelten muß: „Das Auge des Ethnographen“. Leiris fordert seine künstlerisch und literarisch tätigen Freunde auf, den selben Weg einzuschlagen wie er: „Daß sie reisen, und zwar nicht als Touristen (was heißt ohne Herz zu reisen, ohne Augen und Ohren), sondern als Ethnographen, und daß sie dabei in einem allgemeinen Sinne menschlich und offen genug werden, um ihre mittelmäßigen, kleinen ,Manien der Weißen‘ (wie bestimmte Neger sagen), zu vergessen, und auch das zu verlieren, was sie sich unter ihrer Identität als Intellektuelle vorstellen.“

Er arbeitet über Magie, Schamanismus und Ekstase geht von 1931 bis 1933 auf eine Expedition von Dakar nach Dschibuti, sein Tagebuch „Phantom Afrika“ macht ihn erstmals einem größeren Publikum bekannt. Das Auge des Ethnographen ist ein doppeltes, eines, das nicht nur das Objekt — das Andere — im Visier hat, sondern immer auch den Beobachter selbst, der seine starre, ethnozentristische Identität im ständigen Sich-Hinterfragen verliert. Neben ethnographischen Arbeiten — über Masken, Körper- und Zeichensprache, Magie und Ekstase — setzte Leiris in den folgenden Jahren seine biographische Arbeit fort: Der mit jedem Blick auf anderes gegebene (Rück-) Blick auf den Beobachter, die Selbstanalyse, hat ihn bis an sein Lebensende beschäftigt. Nicht biographischen Fakten, sondern ihrer Wahrnehmung und dem Weg, wie sie ins Gedächtnis, zur Sprache kommen, galt dabei sein Interesse. Ein Interesse, von dem Leiris in dem vierbändigen Werk „Die Spielregel“ ein einzigartiges Zeugnis abgelegt hat.

Diese konsequente Lebensbeschreibung ging nicht einher mit einem Rückzug in die Wonnen der Selbstzweifel — Michel Leiris blieb bis an sein Lebensende Surrealist, vor allem was den surrealen Hang zur politischen, kulturellen Revolte betraf: Zusammen mit Sartre gründete er 1944 'Les Temps modernes‘, war '68 aktiv und lehnte noch vor zehn Jahren den französischen Staatspreis für Literatur aus politischen Gründen ab.

„Die Lust am Zusehen“ ist einer seiner Essay-Bände überschrieben, und radikales Zusehen — die Vielfältigkeit möglicher Wahrnehmung und die Relativierung jeder „Wahrheit“ — ist es, zu dem Leiris vielschichtiges Werk einlädt. Und dazu, einen Blick auf den „Krempel“ zu werfen — auf Details, Randerscheinungen, banale Kleinigkeiten — und in ihnen zu entdecken, wonach auch dieser Forschungsreisende ins Fremde und ins Eigene immer suchte: „Das Heilige im Alltagsleben“. Wohl wissend, daß es sich immer nur um Übersetzungen handeln kann: „Was man zu fassen bekommt, ist immer der Schatten, nicht die Beute.“ Mathias Bröckers

Bücher von Michel Leiris: „Die Lust am Zusehen — Über Künstler des 20 Jhds.“, Qumran-Verlag 1981; „Die Spielregel“, Bd.1 und 2, Matthes& Seitz 1982; „Ethnologische Schriften“ (Bd.1-4), Suhrkamp-Verlag 1985; „Spiegel der Tauromachie“, Matthes& Seitz 1982; „Mannesalter“, Suhrkamp- Verlag 1983