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Lob der Zeitung

(statt eines Berichts von der Buchmesse)  ■ Von Karl Schlögel

In der Ecke stapeln sich die Zeitungen des vergangenen Jahres. Sie sind nicht im Altpapiercontainer gelandet. Sie profitieren von den Skrupeln dessen, der sich von ihnen nicht trennen kann. Auch Bücher wirft man nicht weg. Auch aus Büchern reißt man nicht Seiten heraus. Etwas von der Rücksichtnahme, die sonst nur Büchern gilt, entfällt nun auch auf die Stöße von Zeitungen, die unter ihrem eigenen Gewicht zusammensacken und zu vergilben beginnen. Mit Recht: Der Stapel ist die Chronik der laufenden Ereignisse der Epoche, kein verstaubtes Archivstück; es ist der Bestseller, der keiner Reklame bedarf; es ist der Thriller aus der Feder einer schreibenden Hundertschaft, das Epos, das uns für viele Bücher, die nicht geschrieben worden sind, entschädigt hat. In dem Stapel steckt die Zeit, die jetzt schon verloren ist.

Fortlaufender Text und offene Form

Es nutzt wenig, die Stapel sortieren und in eine Ordnung bringen zu wollen. Die Ereignisse, von denen berichtet wird, haben die Ordnung vorgegeben. Zum Text des vergangenen Jahres gehört alles, die Titelseite, die den historischen Augenblick proklamiert, und die Inseratenseite, in der die neue Geschäftsverbindung zeigt, daß es Ernst geworden ist. Erst beide zusammen machen die neue Realität aus. Wir haben vor uns einen fortlaufenden Text, in dem alles so ist, wie es sein muß. Der Text hat viele Autoren und viele Schreibkarten, die Annalen von heute werden in Büros mit Fernschreibern und Bildschirmen erstellt, nicht in den Zellen der alten Chronisten. Das garantiert Offenheit, Vielfalt der Form, wechselnde Beleuchtung. Die Zeitung des Jahrgangs 89/90 ist Dokument, Meldung, Augenzeugenbericht, Präsenz auf wechselnden Schauplätzen, Chronik, intimes Geständnis, Tagebuchnotiz, ungläubiges Staunen, polemischer Furor. Sie ist in Zeiten der Unübersichtlichkeit das Organ, das dem Leser die tausend Ohren und Augen ersetzt und ihn zum Zeitgenossen macht.

Es nutzt nichts, das Außergewöhnliche vom Gewöhnlichen separieren zu wollen, denn der Umsturz dessen, was als gewöhnlich galt, ist das Thema. Wichtig und Unwichtig haben ihre Plätze gewechselt. Das Wesentliche kam unscheinbar daher, und die einmal alles entscheidenden Instanzen waren weg, ohne daß es zur Katastrophe gekommen wäre. Es nützt nichts, die Höhepunkte des Schauspiels, das wir gesehen haben, auszuschneiden, denn wir versäumen so die Spannung, die ihm vorausging, den leisen Wechsel, in dem noch nicht alles spruchreif war.

Die Zeitungen haben nur Protokoll geführt, aber niemals vorher sind sie so begierig gelesen und studiert worden. Es gibt Weltgeschichte in Fortsetzung. Die Meldung ohne alle Zutat war die Sensation. Eine bloße Mitteilung konnte besagen: Das ist das Ende einer Zeit und einer Epoche. Es bedurfte keiner Dramaturgie, keines literarischen Kniffs, man mußte nur den Dingen auf der Spur sein. Die Zeitungen haben uns an Orte geführt, die es vorher nicht gab. Auf ihren Seiten dokumentiert sich der große Ortswechsel. Die Namen, die immer wieder auftauchen, ergeben einen Horizont, der anders ist als der, mit dem man zuvor vertraut war. Sie haben uns nur etwas gezeigt, aber wir haben mehr verstanden als nach der Lektüre eines Lehrbuches. Ihre Reportagen sind Berichte von Reisen in eine zu Ende gehende Zeit. Wir haben Zeitung gelesen, aber die Spannung, mit der es geschah, hatte etwas von der Spannung, die sonst nur bei der Lektüre von großen Geschichtswerken, Romanen oder Abenteuergeschichten aufkommt. Wir wollten uns nur auf dem laufenden halten, aber was wir mitbekamen war: die Veränderung der Welt.

Genre des Augenblicks

Historische Augenblicke sind keine Frage der Dauer. Der Augenblick kann die Sekunde sein, von der an alles anders ist, oder das Jahr, nach dessen Ablauf es kein Zurück mehr gibt. Die Zeitungen, die da in der Ecke liegen, sind das Tagebuch dieser Augenblicke, der abgedrehte Film, der Protokollband der Zeitgenossen. Nun liegen sie da: Seite für Seite, ein aufgeschlagenes Buch der entschwindenden Zeit, eine große Collage, an der noch nichts montiert ist. Kein Autor könnte so sicher sich zwischen und auf den verschiedenen Zeitebenen zugleich bewegen. Das Medium hält aus, was ein einzelner nur schwer erträgt: die Spannung zwischen den Bildern, für die es noch keine Sprache gibt, und den Bildern, die ihre Aussagekraft eingebüßt haben. Wenn wir jetzt darin blättern, dann ist es: das Anhalten des Films, dessen Sequenzen wir kaum folgen konnten. Jede Zeit hat ihr Genre, die Zeitung spürt das besonders. Sie spürt die Verlangsamung und Beschleunigung der Zeit am ehesten, sie kann sich nicht zurückziehen. Ihre Leute müssen vor Ort sein, und wenn sie auf dem laufenden sein wollen, dann müssen sie so beweglich sein, wie die Zeit des Umbruchs selbst. Man kann hier nur seinen Augen und Ohren vertrauen. Das was man sieht, ist wichtig, nicht das, was man schon einmal gesehen hat. Was man an Ort und Stelle hört, ist das Unerhörte. Der Reporter, der dabei ist, ist die Hauptfigur, an der alles hängt. Was er in professionell trockenem Ton berichtet, beschämt die kühnsten Phantasien. Er tut nichts anderes, als Augenblicke im Moment ihres Verschwindens zu fixieren. Hier endlich zahlt sich aus, daß er der Profi für den Tag ist. Er arbeitet dort, wo es keine Geschichte und keine Zukunft gibt, sondern nur die Gegenwart, die es morgen schon nicht mehr gibt. Sie ist unübersichtlich, unfertig. Er kann sich auf das Wissen derer, die danach alles besser wissen, nicht zurückziehen. Er geht das Risiko der offenen Situation ein. Zum ersten Mal erweist sich Gedächtnislosigkeit als Vorzug, und ein Weniger an Geschichte wirkt sich zugunsten der Gegenwart aus.

Der Ton, der die Musik macht

Die Ereignisse haben ihre eigene Logik. Sie nehmen keine Rücksicht auf Meinungen. Das Ethos der Recherche ist resistent gegen das Vor- oder Nachurteil. Die Tatsache gilt, auch wenn sie den Rahmen des Vorgestellten oder Vorstellbaren sprengt. Der Gedanke, der den Dingen hinterherhinkt oder sie überflügeln will, der das Gesetz der Geistesgegenwart mißachtet, verrät sich im Ton. Er ist larmoyant und nostalgisch, vorwurfsvoll und besserwisserisch, forciert und überanstrengt. Der Gedanke, der Schritt hält, hält Schritt, ist bloß angemessen, „entspricht dem Gang der Dinge“. Das ist das Schwierigste: die Gegenwart zu ertragen, ohne sich zu flüchten in alte Zeiten oder in rosa oder schwarze Zukunftsbilder. Der Ton der Kommentare ist so wahr wie die Meldung selbst. Wo sie etwas herbeireden wollen, kann es um die Sache nicht so gut bestellt sein. Wo sie etwas herunterspielen, darf man einen Verdacht hegen. Wo etwas verschwiegen wird, darf man vermuten, daß es etwas Wichtiges noch zu sagen gibt. Es ist kein gutes Zeichen, wenn ein schriller Ton sich meldet. Aber es gab auch Stimmen, die standhielten: Sie sagten im rechten Augenblick das, was zu sagen war — nicht mehr und nicht weniger.

Die Zeit ist unerbittlich. Sie macht Sätze, die einmal einen Sinn gehabt haben, sinnlos. Sie gibt Sätzen, die sinnlos gewesen sind, plötzlich eine Bedeutung. Man lernt genauer zu unterscheiden, was ein Gespensterkampf von gestern ist und was für die heute Lebenden wichtig ist. Wo die Meldungen vom Ende des Status quo gedruckt sind, wird das Sprechen im alten Ton schrill. Man muß sich jetzt auf verschiedenen Ebenen bewegen, wenn man sich verständlich machen will. Man kann jetzt, da die Leute selber sprechen, aufhören, ihr Stellvertreter zu sein.

Bilder für die Welt „danach“

Die Zeitungen, der Wirklichkeit auf der Spur, haben die Gedankenwelt der Bücher überholt. Die Bilderwelten, die sie produziert haben, sind das Rohmaterial für eine neue Gedankenwelt. Auf die Reorganisation des Raum-, Zeit- und Bildhorizonts folgt die Revision der Gedanken. Die Zeitungen führen uns Gesellschaftsanalyse in processu vor, in ihren Mitteilungen kann man Verfallsgeschwindigkeit, relative Stabilität und Zusammenbruch am lebenden Objekt studieren. Öffentlichkeit als gesellschaftliche Autopsie. Sie zeigen einen Ablauf der Ereignisse, von dem noch nicht gewiß ist, wie er ausgeht. Sie haben uns vorgeführt, was passiert, wenn in eine geschlossene Gesellschaft plötzlich Sauerstoff hineinfährt, und sie werden uns zeigen, was geschieht, wenn die Sicherungen, die die alte Ordnung geboten hat, weggefallen sind. Sie stellen, indem sie den Zusammenhang all dieser Fakten recherchieren, den neuen Zusammenhang her, der den alten sprengt. Die Zeitung des Jahrgangs 1989/90 liefert die Bilder, aus der das Weltbild „danach“ entstehen wird. Sie ist das Medium der großen Revision. Mit dem Eintritt in die Gegenwart kommt das Vergessen, und mit dem Vergessen wird ein neuer Blick zurück aktuell. Sie ist die Tabula rasa, auf der sich die Konturen der neuen Lage einzeichnen. Einfach so, nur dem Gang der Dinge folgend. Ein Tableau ohne Rahmen und ohne Konzept, ohne Wegweiser irgendwohin. Ein solches Opus verlangt vom Leser viel — aber dafür bekommt er, was es nicht alle Tage gibt: Epochenwechsel in Zeitlupe.

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