Zeitschriften

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NicolaNahrgang Nicht nur aus therapeutischen Gründen schließen sich in zahlreichen Psychiatrien der BRD die Patienten zusammen, um redaktionell zu arbeiten. Die Redaktionsteams, denen neben den Patienten häufig auch Klinikangestellte angehören, wenden viel Energie auf, wenn es darum geht, über anstehende Themen zu beraten, innerhalb oder außerhalb der Klinik zu recherchieren, Interviews zu führen, Berichte abzufassen, Gedichte, Geschichten und Karrikaturen zu sammeln, Termine und klinikinterne Infos für die anderen Patienten zusammenzustellen, Layout, Druck und Verkauf zu organisieren...

Erschwert wird die Arbeit zum einen durch die hohe Fluktuation der Mitarbeiter und zum anderen durch ihre Heterogenität ihrer Zusammensetzung. Hinzu kommen institutionelle Hindernisse und massive Vorurteile in- und außerhalb der Klinik.

Die zur Zeit erscheinenden etwa 60 verschiedenen Patientenzeitungen erreichen selten die Öffentlichkeit. Die meisten beschränken sich auf einen klinikinternen Verteiler und haben demzufolge nur eine Auflagenhöhe von 100 bis 500 Heften.

Was schließlich aus dem Bedürfnis nach Kommunikation und der Werbung um kritische Anteilnahme entsteht, ist in seiner authentischen Dichte frappierend, gleichzeitig nicht selten einfallsreich und originell.

1985 gelang es, verschiedene Patientenredaktionen in Göppingen zu einem Erfahrungsaustausch zusammenzuführen. 1987 wurde die Diskussion auf einer Redaktionstagung in Tübingen fortgesetzt. Es ging bei den Treffen nicht nur um journalistische, rechtliche und technische Fragen, sondern auch um den Aufbau von Kommunikationsnetzen zwischen den einzelnen Kliniken, um Herstellung von Pressekontakten und die Initiierung einer Koordinationsstelle für Anfragen und Probleme.

Die Redaktionsteams scheinen an Selbstbewußtsein zu gewinnen. Das macht auch die 1988 im AG-SPAK- Verlag erschienene Dokumentation Seelenpresse deutlich, in der Rolf Brüggenmann anhand von Beispielen über Ziele, Stand, Rückschläge und Erfolge der Arbeit berichtet.

Seit Herbst 1989 archiviert die Dokumentationsstelle „Randgruppenliteratur“ der Uni Münster kontinuierlich eine Vielzahl von Patientenzeitungen, um sie Studentinnen und Studenten sowie einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Für die Zukunft sind Seminare zum Thema „Literatur aus der Psychiatrie“ geplant.

„Im Brennpunkt“

„Gedanken zur Situation“ macht sich Stefan Diedrichs 'Im Brennpunkt‘ April 1990. Monotonie, leere Versprechungen und ein geringes Freizeitangebot kennzeichnen seiner Einschätzung nach den Alltag der forensischen Station. Seine Kritik wendet sich jedoch nicht nur gegen die Institution, sondern auch gegen die MitpatientInnen, deren „Spiel ,Angepaßtheit — mehr Vergünstigungen — Entlassung‘“ er als Ursache für die Stabilität der frustrierenden Lage durchschaut hat.

Fast wie eine Bitte um Nachsicht für diesen Mangel an Aktivität wirkt ein Gedicht von P. Beckhausen, das einige Seiten später abgedruckt ist. „Ich bin auf der Flucht vor meiner Angst“, so sein Leitsatz, der im Laufe des Gedichts in dreifacher Variation einer psychischen Notsituation Ausdruck verleiht, die sich nicht zuletzt handlungshemmend auswirken mag.

„Dynamo“

Für den 'Dynamo‘ Nr. 3 (1989) hat die Redaktion Klienten eines Wohnbereichs zum Interview eingeladen. Es geht um die Stimmung im Wohnbereich, auch darum, inwiefern sich das Leben dort vom Aufenthalt in der Klinik unterscheidet. Die Antworten sind sachlich, die Klienten wägen das Für und Wider von Wohnbereichen der Rehabilitation gegeneinander ab, und vermitteln so dem Leser einen angemessenen Eindruck von ihrer Situation. Man fühle sich nach wie vor „betreut“, auch schon mal „entmündigt“, im allgemeinen herrsche jedoch Zufriedenheit. Einhellig besteht ein Wunsch nach mehr Freiheit, um besser auf das Leben draußen vorbereitet zu sein. Die Befragten sehen im Zusammenleben auf engstem Raum, wo „die Probleme der Mitklienten für jeden Einzelnen eine zusätzliche Belastung“ darstellen, eine Chance, Konfliktbewältigung und soziales Verhalten zu trainieren.

„Heller Wahn“

„Ich empfinde es als einen Strafbestand, der auf unterlassene Hilfeleistung abzielt, wenn psychisch behinderte Menschen auf die Straße hin entlassen werden.“ Mit diesem schweren Vorwurf wendet sich Marc Hufnagel in 'Heller Wahn‘ Nr. 17 (1990) gegen die in der Psychiatrie nicht seltene Praxis, Patienten deren andauernde „Unverbesserlichkeit“ den Erfolg des Therapeutenteams in Frage stellt, in andere Heime zu verlegen oder in die Obdachlosigkeit zu entlassen. Der Rausschmiß aus der Klinik oder dem Wohnheim komme einem Mißbrauch des „institutionell erlaubten Instruments ,Verlegung‘“ gleich. Die verheerenden Folgen einer unvorbereiteten Entlassung erlebt Marc Hufnagel an seinem Freund Rilf mit, der seit Ablauf der Kostenanerkennung für seinen Wohnheimaufenthalt obdachlos ist. Auf Solidarität von seiten seiner ehemaligen Mitbewohner hofft er umsonst.

„Mauersegler“

„Also, wenn Du also vielleicht, äh..., mal diesen 'Mauersegler‘ lesen würdest gegen die nervöse Anspannung und starken Antriebsverlust, dann wären Deine kriegerischen Tage endlich vorbei.“ Die werbenden Worte, mit denen das Redaktionsteam die Ausgabe 2/90 (März) seines 'Mauerseglers‘ einleiten, versprechen wahrhaftig nicht zu viel. Das Inhaltsverzeichnis kündigt ein breites Themenspektrum an, das sich von einer statistischen Planstellenerhebung über einen Beitrag zur kulturellen Arbeit der Theatergruppe bis hin zu einem mehrseitigen kreativen Gedichtteil erstreckt.

Ins Auge fallen einige Berichte aus dem Pressespiegel, die sich mit dem erst kurze Zeit zurückliegenden Ausbruch zweier Patienten aus dem LKH Moringen beschäftigen. Norbert Hungeling nimmt im 'Mauersegler‘ zu der in den Medien hochgeputschten Flucht und ihren Folgen für die Station Stellung. Er verweist die vorschnell Urteilenden auf die vertrackte Lage von Drogensüchtigen und mahnt zu Zurückhaltung, da kaum jemandem die Vorgeschichte des Ereignisses bekannt sei. Mit Bedauern stellt er fest, daß der Mauerseglerredaktion in diesem Fall das Recherchieren untersagt wurde. Verständlich erscheint seine Frage, „warum der 'Mauersegler‘ keine freie Zeitschrift sein kann, die auch kritische und unbequeme Themen an die Öffentlichkeit“ bringt.

„Nervensäge“

Den Sinn des pointierten Namens der Lippstädter Patientenzeitung mag der Leser beim Nachdenken über das Gedicht „Die freundlichen G(Kn)astgeber“ von Holger B. erfassen, das in der Ausgabe 1 (April 1990) abgedruckt ist:

Die freundlichen G(Kn)astgeber!

Sie laden dich zur Mahlzeit ein.

Sie rücken dir den Stuhl an den Tisch.

Sie schieben dir den Löffel in den Mund.

Sie bieten dir Zigaretten an.

Sie geben dir Feuer.

Sie drücken dir einen Bleistift in die Hand.

Sie sagen; ,Fang an' — und drehen sich weg:

Fast jeder hat das Werkzeug das, er verdient!(Holger B.)

Auch sonst nimmt die 'Nervensäge‘ kein Blatt vor den Mund. Unter der Rubrik „Ballaburg-Life-Haus 30“ werden „Storys“ erzählt, „die einem NORMALDENKENDEN die Haare zu Berge stehen lassen“: Öffentliche Gelder würden sinnlos verplempert, Psychologen vernachlässigten ihre Therapiepflicht, Pflegegruppen existierten nur auf dem Papier... Dem einer Satire gleichenden Anklagekatalog ist eine bildnerische Darstellung der „Verwahrung von Geisteskranken im 18.Jahrhundert“ nachgestellt. Sicher nicht ohne Hintergedanken!

Rolf Brüggemann: Seelenpresse, Patientenzeitungen in der Psychiatrie, München, AG SPAK 1988.

Im Brennpunkt, Rheinische Landesklinik Langenfeld, Kölner Str. 82, 4018 Langenfeld.

Dynamo, Rehabilitationszentrum Rudolph-Sophien-Stift, Leonberger Str. 200, 7 Stuttgart 1.

Heller Wahn, Medizinische Hochschule Hannover — Psychiatrie, Konstany-Gutschow-Str. 8, 3 Hannover 68.

Mauersegler, NLKH, Mannenstr. 29, 3414 Moringen.

Die Nervensäge, Westfälische Klinik für Psychiatrie, Hauptstr. 19, 4830 Lippstadt 16.