Geschäftsmäßig und ohne nationalistische Töne

■ Kanzler Kohl hielt eine wolkig-unkonkrete, aber keine national-pathetische Regierungserklärung

Mit seiner gestrigen Regierungserklärung hielt sich der erste Kanzler des vereinigten Deutschland ganz im Kontext der vorangegangenen Einheitsfeiern: fast ein wenig lustlos-geschäftsmäßig, ohne Höhepunkte aber eben auch ohne die bösen Überraschungen, die in- und ausländische Kritiker dem neuen Koloß in der Mitte Europas zutrauen. Nein, auch bei genauem Zuhören war kein nationalistischer Tonfall aufzuspüren. In diese Falle, das war zu erwarten, würde Kohl in der ersten Sitzung des gesamtdeutschen Parlamentes selbst dann nicht tappen, wenn er insgeheim die neu-nationale Stimmungslage für eine offensive Veränderung der weltpolitischen Stellung Deutschlands nutzen wollte. „Deutsche Sonderwege und nationalistische Alleingänge“, so Kohl, „wird es auch in Zukunft nicht geben.“

Er beginnt seine Rede mit einer relativ ausführlichen Passage, in der er sich zu „allen Teilen“ der deutschen Geschichte bekennt. Fast scheint es, als habe ihm das nationale Hoch der letzten Monate erst die Souveränität verliehen, in recht uneindeutiger Weise die historische Verantwortung zu akzeptieren. „Niemals“, so Kohl, dürfe „vergessen, verdrängt oder verharmlost werden“, welche Verbrechen in diesem Jahrhundert „von deutscher Hand begangen worden sind“. Die Erinnerung wachzuhalten, „schulden wir den Opfern“, vor allem „den Opfern des Holocaust, des beispiellosen Völkermordes an den europäischen Juden“.

Um so enttäuschender allerdings blieben die außenpolitischen Passagen, in denen Kohl die historische Verantwortung Deutschlands in die Zukunft hätte konkretisieren können. Zum neuen Verhältnis gegenüber der Sowjetunion und Polen fallen Kohl nur warme, zustimmungsfähige, aber eben doch unverbindliche Sätze ein: Moskau gegenüber wird die „umfassende Entwicklung der Beziehungen“ versprochen und die Hoffnung formuliert, beide Länder könnten in Zukunft an die großen Phasen, gemeinsamer Geschichte anknüpfen. Den Polen verspricht der Kanzler die „dauerhafte Aussöhnung“. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob die gesamtdeutsche Einführung der Visa- Pflicht der geeignete Beitrag des neuen Deutschland darstellen soll, die Polen von der Ernsthaftigkeit des Aussöhnungsversprechens zu überzeugen. Ähnliches gilt für das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden. Daß Kohl sich unzweideutig zur historischen Verantwortung bekennt, ist eine Selbstverständlichkeit, die nur deshalb mit Erleichterung aufgenommen wird, weil sie die zweideutigen Äußerungen der Vergangenheit korrigiert und Ängste entkräften hilft, die das vereinte Deutschland weckt. Daß jedoch der Einreisestopp für sowjetische Juden am Anfang des vereinten Staates steht, entwertet Kohls wohlmeinenden Worte in fataler Weise.

Innenpolitisch widmet sich Kohl erwartungsgemäß ausschließlich den Fragen der Vereinigung. Lafontaines Angriffe der vergangenen Wochen aufgreifend, versucht sich Kohl jetzt, nach der Herstellung der staatlichen Einheit, an der wirtschaftlichen und sozialen Definition des Begriffs. Mangels überzeugender Konzepte, wie das Wohlstandsgefälle, der entscheidende Motor der Vereinigung, abgebaut werden kann, versucht sich Kohl hier mit eher pathetischer Stimmungsmache plus einem recht detaillierten Katalog dessen, was an Einzelmaßnahmen auf den Weg gebracht wurde oder werden soll, herauszureden. Viel sei in den letzten Monaten „in Bewegung gekommen“. Um wirtschaftlich und sozial eins zu werden, komme es jetzt darauf an, zusammenzustehen; große Anstrengungen werden abgefordert, Opfer, so Kohl, seien unvermeidbar... Die Unternehmen müßten sich jetzt, so des Kanzlers nicht gerade originelle Forderung, „durchgreifend ändern“, das dringend notwendige Infrastrukturprogramm sei bereits eingeleitet, umweltbelastende Betriebe würden stillgelegt. Ansonsten gilt für Kohl in diesem Zusammenhang weiter der obligatorische Verweis, was in vierzig Jahren zunichte gemacht worden sei, könne nicht in wenigen Wochen aufgeholt werden. Lange wird sich der Kanzler auf dieser Halbwahrheit nicht mehr ausruhen können. Matthias Geis