Mutterschaft schmatzt Rangabzeichen

■ Ein Ostberliner Dichter feiert Geburtstag

Rechtzeitig vor dem weltweit bestaunten DDR-Existus konnte NIX sein Erscheinen feiern, das erste Buch von Peter Wawerzinek, den das Schmuddelvolk vom Kollwitzplatz als Schappy kennt. Möglich wurde das Ereignis durch die Verlagsgründung von Warnke + Maas, bei der man sich nur wundern muß, warum die Ostberliner »Entwerder«-Strategen nicht bei ihrem undergroundgeheiligten Namen geblieben sind. Jetzt sitzen sie jedenfalls in einem offiziellen Büro und veröffentlichen Bücher, vor denen zu warnen ist. Die Buchpremiere fand angemessen am Sonntag im Franz-Klub statt, natürlich kurz vor Mitternacht, weil Schappy zu allem Überfluß auch gleich Geburtstag hatte. Es war toll, aber dazu später.

Jetzt zum Buch. Weil Baader, auch ein junges, dichtendes DDR- Urgestein, hier sowieso genannt werden muß, bringen wir's mal kurz und schmerzlos hinter uns: Baader lebt nicht mehr. Er hat es fertiggebracht, schon in der Nacht der Währungsunion abzukratzen. Auf die Totalvereinigung zu warten, war er sich einfach zu fein (man bedenke nur, wie oft er inzwischen noch hätte kotzen müssen). Aber Schappy, sein treuer Sancho Pansa, lebt und veröffentlicht jetzt die selbsterschauerten Mülltonnen nebst dem Scherbenhaufen einer völlig verkorksten Kindheit. — Alles geklaut! Jedes Wort in diesem Buch ist schon irgendwann und -wo gesprochen worden. Außer dem, wo der Ledersessel spricht: »Ich bin nicht klüger, ich bin lederer.« Lederer ist gut. Ansonsten eben alles geborgte Worte, am Monatsende zurückzuzahlen. Vorher kaut sie Schappy bis zum Hodenbruch durch, haut Metaphern windelweich und scheppert einem Bilder um die Ohren, daß Hören und Sehen zur Strafe wird. Mir reicht's! (Aber steht das nicht auch schon im Buch?)

Man gerät nur zu verflucht ans Zitieren, wenn der Text so in die Eingeweide greift: »Ein Indiz für den Nullpunkt der Dämmerungen sind die Gewohnheiten der Witzbolde beim Zuprosten, beim Strammsingen der Nationalhymnen. Unerschöpfliche Mutterschaft schmatzt Rangabzeichen bis an den Kragen, komfortable Handschellen.« — Hat schon einer jene Ekelgegenwart so zusammengepfercht? Das Weiterlesen ist zu verwarnen! Weil ich mir parallel nochmal die Texte um Nichts von Beckett reinhelfe, finde ich dieses: »Ich kann nicht bleiben, ich kann nicht weg, mal sehen, was geschieht.« So simpel könnte das Motto des Buches sein, wenn ... ja, wenn wir nicht selbst die Mülltonne wären, die schon weiß, was geschieht: Es kommt nichts Neues, wir werden nur benutzt ... Auch unsere Sprache.

Und Schappy hebt den ganzen Unrat auf, hält ihn dicht vor die Nase und sagt: 's is' NIX. Das preßt er zwischen Buchseiten, die sich nicht wehren können, und lädt uns zum Fressen einer Sprache ein, die NIX zu hoffen läßt, die wir aber weiter fressen müssen (oder verrecken).

Übrigens sind auch die Illustrationen so hinterhältig, daß man sich noch was bei zu denken hat: Tabellen zum Notieren von guten und schlechten Zeiten, Anleitungen zu Pawlowschen Tierversuchen, Inzeststatistiken und Ähnliches rüttelt wider jede Vernunft durch das schön gesetzte Textgefüge. »Die Hirne lümmeln« (Benn) quer über die Banalität des gewöhnlichen Horrors. Damit sind wir wieder bei der Premiere. Schappy liest 35 Erinnerungen seiner verschleppten Zeugung — wild heart decadence life! Die Jungs vom »Expander des Fortschritts« waren so unerbittlich hämmernd gut drauf, daß ich jetzt noch beim Lesen die Rhythmen spüre. Ein Videobild flimmert daneben, Schappy liest dagegen, benutzt es, bittet um Stille, muß leider brüllen: »Ein langgehegter Wunsch. Für fünf deutsche Mark einmal ins Gras von Puschkins Grab beißen.« — Der dürfte doch jetzt zu erfüllen sein!

Ich hab' mir noch am gleichen Abend die ad-acta-LP vom »Expander« gekauft. Aber die ist Mist, kann man wirklich zu den Akten legen. Gestelztes Gehobel, schrille Stimmpeleien, die einem Überkommenes eindeklarieren. Mit einer Ausnahme: ein Gedicht von Friedrich Nietzsche, in einfach schönem Blues- Rhythmus gebracht. Der hätte gut zum Abend gepaßt.

»Die Krähen schreien

Und ziehen schwirrend flugs

zur Stadt

Bald wird es schneien

Wohl dem der jetzt noch Heimat hat« Fritz Viereck