STEHENDER VERKEHR

Ein Rückblick auf die Automobilität im Sommer 1990  ■ VON CLETUS OSSING

„So schlimm wie in diesem Sommer war es noch nie!“ Seit Jahren der gleiche Stoßseufzer, seit Jahren aber auch der gleiche, sich steigernde Streß. „Du stehst nicht im Stau, Du bist der Stau“, lautet ein Graffito, das zeitgeistige Konfundieren von Täter und Opfer korrekt beschreibend. Opferbereit wie die Schafe und zuhauf wie die Lemminge treffen sich alle pünktlich zu Ferienbeginn an denselben Stellen auf der Autobahn wieder, the same procedure as last year.

Fehleinschätzungen der Lage korrigieren sich selbst. Zwar hatte auch die taz beim Absacken der Inntalbrücke falsch einen Riesenstau am Wochenende orakelt: nichts Außergewöhnliches passierte. An dem vorhergesagten Wochenende jedenfalls. Eine Woche später war trotzdem alles wieder geregelt: Beginn der Sommerferien mit Staus allenthalben und einem Rekordstau von 110 Kilometer Länge, zwar nicht an der Inntalenge, aber immerhin doch auf der Rennbahn nach Süden. Einhundertzehn Kilometer Auto an Auto! Das war der Infarkt dieses gesellschaftlichen Verkehrssystems. Oder, um in der Sprache der Medizin zu bleiben, der Koitus interruptus der Blechhaubenphallokratie.

Soziale Welt Staugemeinschaft; der Katalysator-Passat vor mir tut kund: „Tempo 100 – dem Wald zuliebe“, trotzdem stellt die Fahrerin den Motor auch nach 10 Minuten Stillstand nicht ab. Zwei Wagen weiter hinter mir auf der Nebenspur bellt ein gestreßter Hund wie verrückt, und Herrchen schimpft mit Frauchen: „Ick hätt' die Töle ja schon bei die letzte Raststätte anjebunden, aba du konn'st dir ja noch nich trenn'n!“ Von nebenan beglückt ein gestutzter Schnurrbart mit weißen Söckchen die Welt rundum, Muzak bis zum Anschlag. Wer immer den Slogan in die Welt gesetzt hat, daß im Stau alle gleich seien: Falschaussage! Stau ist eben nicht erzwungene Demokratie, die vorher bei Tempo 190 ausgetobte Arroganz findet hier nur andere Stilmittel. Hupkonzert, Hupkonzert; ein besonders schnittiges Automobil sucht einen Weg in die Nebenkolonne, weil die sich gerade ein wenig bewegt hatte. Dümmliches Grinsen, hochgekurbelte Scheiben und ein ausgefahrener Mittelfinger geben ein stimmiges Bild vom Zustand der Denkbahnen des lenkenden Schnösels.

Nirgendwo sonst wird mit einer derartigen Unbefangenheit auf die jeweiligen Neurosen hingewiesen wie beim Auto. Schwarzer Lack, dunkle Scheiben, breite Reifen, viel Halogen vorn, Spoiler hinten, alles protzig garniert mit vier Antennen, nein, es ist kein Vorurteil, dick und doof gehören in dieser Beziehung zusammen. Die egomane, zwanghafte Lockerheit der Fahrer (in der Regel wirklich männlich) äußert sich auch darin, daß zum Vorderauto im Stau mal 30 Meter Platz gelassen werden, bevor mann aufschließt. Daß dieses bei 100 Autos bereits 3 Kilometer Stau ausmacht, ist leicht nachzurechnen, aber nicht nachzuvollziehen.

Amerikanische Verkehrspsychologen (wer sonst) wollen herausgefunden haben, daß Menschen im Staustreß das Hupen als Hilfeschrei verwenden. Das wäre eine Erklärung für das sonst völlig unsinnige Blöken bei Geschwindigkeiten zwischen 0 und 5 Stundenkilometern. Wenn auf der Stadtautobahn Berlins regelmäßig und pünktlich zum Feierabend nichts mehr rollt, wird tatsächlich um so mehr gehupt. Dadurch wird der Verkehr nicht schneller, aber lauter.

Die Unlogik, die in der Sache liegt, wird am deutlichsten, wenn ausgerechnet die Autolobbyisten vom ADAC vor dem Stau warnen, der letzlich doch nichts anderes ist als folgerichtiges Resultat der von den Automobilklubs geforderten Verkehrspolitik.

Allein der BRD-Straßenverkehr nahm von 1985 bis 1989 um knapp 40 Prozent zu; in der Noch-DDR sind seit dem Mauersturz 450.000 Wagen neu zugelassen worden. Im Straßenbaubericht der Bundesregierung wurde verlautbart, daß man in der Mitte der 90er Jahre mit regelmäßigen Staus auf der Hälfte des Autobahnnetzes zu rechnen habe. Die Schlußfolgerung war allerdings nicht, daß ein flächendeckender Stau das derzeitige Verkehrssystem ad absurdum führt, sondern daß mehr Geld für mehr Staßen gebraucht wird. Auf denen wieder mehr Autos fahren. Eine gewisse Assoziation zum Karussell drängt sich da auf.