Wahrhaft komplett

■ Peter Kurzecks vierter Roman

Einmal ein leerer Werktag im April, im September. Es wird ein für immer vergangener Dienstag gewesen sein, da zog mein Freund Wolfram einmal mit ihm los. Frühnebel, Morgendunst und die Scheiben beschlagen. In Gießen an der Lahn, die Stadt liegt in einer Senke, das Gießener Becken (...). Der Wolfram und der Horst Meier, sie werden schon im voraus ein paar Gläser getrunken haben, so ein Tag also. Schon die ersten, und gleich immer mehr Schulkinder — oder sind das keine Schulkinder? In Scharen schon auf ihrem heutigen Heimweg, so schnell geht die Zeit. Wie es scheint, schreiben wir das Jahr 1960. Direkt einen Plan, einen fertigen, festen Plan werden sie zu zweit nicht gehabt haben. Sie haben den heutigen Tag und das Lastauto. Bißchen Wind. Gegen elf, gegen eins ungefähr (die Schule ist aus, und keine Sonne will sich zeigen) sind sie mit dem Lastauto in den ländlichen Mittagsvorort Klein-Linden gefahren. Dort fährt der Horst Meier gleich lärmend in einen wildfremden Hof hinein: „Tor stand offen. Hier sind wir.“

Einige Tage am Ende der 50er Jahre, einige Männer — wir erfahren nie ganz genau: sind es Handwerker, Handlungsreisende, Schmuggler? — sind unterwegs auf der Bundesstraße3 zwischen Gießen und Frankfurt. Nirgends kommen sie an, die Orte entlang ihrer Strecke vermischen sich untereinander, und das Frankfurter Bahnhofsviertel — in seinem Leuchten am Horizont erscheint es als Verheißung von Glück und Geld — ist in der beschriebenen Traurigkeit dem Friedberger Marktplatz morgens um acht ebenbürtig.

„Cruising“ — wir kennen dieses Wort aus dem Amerikanischen und verbinden damit Cabriolets, Rock 'n' Roll und Rebellion. Mobilität als Lebensform, nicht das geschäftige Reisen, sondern das Sich-treiben- lassen, fahren, fahren, fahren. Es ist schwer, sich dieses Wort ohne Highways und die unendlichen Einfallstraßen von Los Angeles zu denken, und doch funktioniert es auch hier, in tiefer deutscher Provinz, zwischen Lang-Göns und Großen-Linden, es funktioniert mit Kiosken und mit Kühen auf gepflasterten Dorfstraßen. In dieser Hinsicht greift Kurzeck ein Motiv seines ersten Romans „Der Nußbaum...“ noch einmal auf: die subversive Bewegung einiger Außenseiter, aus deren Augen Gesellschaft als Chimäre von Sinn und Sicherheit erscheint.

Die durchgehenden Hinweise auf den Herbst oder den (verregneten) Frühling könnten vermuten lassen, daß hier das Thema des Übergangs und der Veränderung beschworen wird. Tatsächlich prägen aber gerade diese Topoi den ausgefeilten Prosastil Peter Kurzecks. Hier wird nicht versucht, bis in die Nebensätze hinein etwas zu Ende zu erzählen, hier hängen die Dinge und Situationen in Hauptsätzen lose aneinander, da kann sich immer noch etwas dazwischen drängen, das somit den gleichen Wert gewinnt. Peter Kurzeck arbeitet weiter an seinem Projekt: Assoziation und Erinnerung, Fußnote und Klammereinschub, die Mannigfaltigkeit der in sich selbst aufbrechenden Geschichten „wie ein Briefmarkensammler, der (...) unter der Lampe seiner Jugend einschlief und eben im Traum dabei war, seine Briefmarkensammlung Alle Zeit — Alle Welt wahrhaft komplett zu kriegen.“ Martin Pesch

Peter Kurzeck, „Keiner stirbt“, Roman, Verlag Stroemfeld/Roter Stern, 38 DM