Obszönitäten finden am Tage statt

■ „Ein historischer Tag: Schattenrisse zur deutschen Wiedervereinigung“ und einige Verlagsfeste — ein typischer Abend auf der Buchmesse Frankfurt

Da ich überhaupt am liebsten lese, volle Gläser mir Angst machen und Indiskretionen mir nicht liegen, gab ich an einem Abend meine Eintrittskarte ins Nachtleben der Buchmesse an einen Kollegen ab und begab mich an einen Ort, wo gearbeitet wurde, also intensiv schwadroniert, gelesen und gedacht. Da hockte die linksliberale, kurzberockte, 'FR‘-lesende Frankfurter Szene und harrte der Sätze, die aus den Mündern von Christiane Ensslin, Heleno Sana (Das vierte Reich), Christina von Braun (NichtIch), Bernt Engelmann und Henryk M. Broder kommen sollten. Die Veranstaltung hieß „Ein historischer Tag: Schattenrisse zur deutschen Wiedervereinigung“ und warf ein steiles Licht auf die Seelenlage der Liebhaber folgenloser Melancholie. Christiane Ensslin las aus Briefen an sie von einer Frau, welche die Bedingungen des psychischen Überlebens einer Generation, die sich selbst gern „die 68er“ nennt, durchaus stimmungsvoll und am Beispiel der RAF abgrenzend, aber um Verstehen bemüht, behandelt. Das grundsätzlich verkaterte Verhältnis zur Gegenwart, das diese Altersgruppe auszeichnet, kreißt noch immer mit der Frage, warum es in Deutschland, will sagen der BRD, keine Revolution gegeben habe, als es doch an der Zeit war. Die Frage wurde schlüssig damit beantwortet, daß „das Zusammenspiel universaler Knechtschaft und individuell empfundener Autonomie“ eine Revolte eben verhinderte. Die tugendhafte Nichtkäuflichkeit der RAF, ihr jakobinisch reiner Terror wurde in wirkungsvollen Gegensatz gebracht zur schnöden Anpassungsleistung von Grünen, Frauen- und sonstigen Randgruppen, linken Lehrern, Bewegungstherapeuten und dergleichen mehr. Und alle diese klatschten und ich natürlich auch.

Henryk M. Broder, der ja, wenn alle es sehr gut meinen, durch das Gegenteil aufzufallen pflegt, kam dieser Erwartung gern und heftig nach, obgleich doch nicht zu überhören war, daß er auch Meister in der deutschen Stilübung ist, mit vielen Pointen eigentlich nichts zu sagen. Er mokierte sich ein wenig über die Ängste unserer Nachbarn zur Wiedervereinigung — dabei „ging es nicht um den Lebensraum im Osten, sondern den Winterschlußverkauf im Westen“ — und malte die Enttäuschung all derer, die es lieber gewaltsam und blutig haben, mit den schönsten Worten aus: Deutschland verhält sich derzeit, „als würde Graf Dracula am hellichten Tag im Trainigsanzug durch die Straßen laufen und sich beim DRK als Blutspender bewerben“. Der intellektuelle Zehrwert blieb gering. Man kann am Ende, wie es in den Buddenbrooks heißt (jeden Tag ein Thomas-Mann-Zitat), nicht fünf Beine auf ein Schaf verlangen.

Nun war ich wild begierig, mich doch zu amüsieren. Ich stürzte in die nächste U-Bahn, um bei dem in den letzten Zügen liegenden Fest des Fischer Verlages zwar lauter nette Leute, aber auch lauter leere Flaschen anzutreffen und mit einigen weiteren, die ebenfalls zum Abgrund hin entschlossen schienen, einen Ortswechsel zum Rowohlt-Café zu beschließen. Selbiges ist eine feste Messe-Einrichtung und zeichnete sich bisher dadurch aus, daß alle Mühseligen und Beladenen der Verlagsszene dort auch mitten in der Nacht noch freundliche Aufnahme fanden. Das Café „Laumer“ an der Bockenheimer Landstraße stellt seine Räume zur Verfügung, und alle Gäste benehmen sich gern und ausdauernd daneben, verlangen gröhlend Champagner und Hühnersuppe und schrecken die Anwohner durch hysterisch spitze Schreie nach Taxen noch im Morgengrauen. Entweder Rowohlt oder aber die Cafébesitzer haben indes bedauerlicherweise dazugelernt, und so wurde ab eins nichts mehr serviert und um halb zwei rüde das Licht gelöscht.

Auch eine Fahrt zum Fest des durchaus evangelischen Verlages Beltz & Gelberg, das unsinnigerweise in einer Bar namens „La Bohème“ stattfand, erbrachte nichts als Frustration im Halbdunkel, und so zog ich mich denn zurück.

Was lehrt uns das? Erstens: Das Nachtleben auf der Messe ist das uneigentlich Eigentliche, und zweitens finden die wahren Obszönitäten am Tage statt. So ertappte ich einen gut gekleideten Herrn, führend in der Branche des Geistes, wie er neben der Herrentoilette vor laufenden Kameras ein nachdenkliches Gesicht machte und sagte: „Wenn Sie mich fragen, welches Buch mich ein Leben lang begleitet...“ Bei so viel Tiefsinn bleibt nur noch der Tagesspruch zum Messethema „Japan“, auch ein Kommentar zu den verquollenen Lidern der übermüdeten Teilnehmer: „Ab sofort wird nur noch mit Stäbchen gelesen.“ Elke Schmitter