Der Sportgeist der Gummibärchen

■ Ultimate-Frisbee — die alternative, demokratische Antwort zum Brutalo-Fußball: Mangels Schiedsrichter werden aufkommende Meinungsverschiedenheiten per sofortiger Diskussion gelöst/Vom Tellerfänger zur Sportskanone

Berlin. Im Mittelalter lebte einst eine Großfamilie, deren Mutter es eines Tages satt hatte, sich bei der mittäglichen Essensverteilung ständig die Streitereien ihrer Kinderschar anzuhören. Sie entwickelte eine neue Methode, indem sie den hungrigen Geistern fortan ihre Teller zuwarf und außerdem drohte: Wer nicht fängt, kriegt nichts zu futtern. Es enstand ein heute weit verbreitetes Freizeitspiel, bei dem die existenzielle Nahrungsaufnahme freilich keine Rolle mehr spielt. Der Enstehungsgeschichte verpflichtet, heißt das Vergnügen nun: Fressen und Sein. In good english: Frisbee.

Dieser einzig denkbaren, aber leider nicht bis ins letzte Detail belegten Historie des Frisbee-Sports ist nur hinzuzufügen, daß die Teller heute wegen des besseren Fluges verkehrt herum geworfen werden und wegen des geringeren Bruches aus Plastik sind. Das bestätigen jederzeit die ausgebufften Meister der fliegenden Untertassen, die an diesem Wochenende in Scharen in Berlins Friedrich- Ludwig-Jahn-Sportpark zogen. Damit kamen sie in ein verabschiedetes Land, in der ihre Frisbee-Geschosse bis vor kurzem noch sozialistisch vereinfacht mit »Plastikfreizeitwurfscheibe« abgekürzt wurden. Aber Ultimate-Frisbee (bitte sprechen: Altimäit Ffrisbiiie) gehört zu den harmlosesten aller West-Exporte.

Ultimate-Frisbee ist ein Spiel für zwei Teams mit je sieben Spielern auf einem rund 110 mal 37 Meter großen Fels. Selbiges ist gedrittelt in zwei Endzonen und das dazwischenliegende Hauptspielfeld. Punkte werden erzielt, wenn ein Spieler in der gegnerischen Endzone die Scheibe erhält und fängt. Das Spiel endet bei 13 oder 15 Punkten. So einfach ist das. Unklarheiten haben keine Chance, weil sich vor Anpfiff die Mannschaftskapitäne sowieso einigen müssen, nach welcher Ausgabe der Regeln gespielt wird. Kein Quatsch, echt wahr.

Die Amerikaner als Väter von Ultimate-Frisbee, ändern laufend die Regeln, was sich nicht bis zu allen Vereinen durchspricht und deshalb ausdiskutiert wird.

Oberstes Gesetz und wichtiger als alle Verordnungen ist ohnehin der »Spirit of the Game«, der Sportgeist, nach dem jeder Spieler von seinem Kontrahenten erwarten darf, daß dieser die Regeln nicht absichtlich verletzen wird. Ein wahrer Frevel ist für jeden Frisbee-Freak das Motto »Was der Schiedsrichter nicht sieht...« Wobei er wirklich nichts sieht, weil es gar keinen gibt. Das regelt sich alle von selbst: Ein gefoulter Spieler ruft »Foul«. Nun gibt es zwei Varianten: Entweder der Gegenspieler stimmt dem Ruf zu und der Gefoulte erhält die Scheibe zurück oder er ist anderer Meinung, dann geht die Scheibe zu dem Werfer zurück, von dem sie geworfen wurde. Bei einer Meinungsverschiedenheit ist es üblich, erst nach Klärung des Problems das Spiel fortzusetzen. Ein geradezu göttliches Beispiel für Sport-Demokratie, zumal im Jahn-Sportpark keine Streitereien zu beobachten waren.

Deutsche Meisterschaften gibt es seit zehn Jahren. Während beim ersten Championat nur fünf Teams ihre Scheibe warfen, kamen zum Jubiläum über 30, die in drei Ligen aufgeteilt wurden. »Team 42« aus Dreieich bei Frankfurt/Main ging als Titelverteidiger ins Turnier, verlor aber am ersten Tag zwei Mal. Andere Frisbee-Fänger spielten sich mit skurilen Namen in den Vordergrund: die „Rotaetos Potaetos“ (Bremen), „Mir san mir“ (München) und die „Gummibärchen“ genauso wie die „Wall Cities“ Berlin. Dem SC Siemensstadt angehörig (von dem sie aber nur die Hallenmiete spendiert bekommen) trainieren die Berliner zweimal die Woche, sind dennoch gerade in die zweite Liga abgestiegen, auch wenn mit Steven Defty ein echter Ami ihr Trainer ist. Er organisierte auch diese Deutsche Meisterschaft in Berlin, für die ursprünglich das Maifeld am Olympiastadion vorgesehen war. Als von dort vor drei Wochen eine Absage kam, sprang kurzfristig das Jahn-Sportpark im Ostteil der Stadt ein. Eine Schule, gleich in der Nähe, bot sich als Herberge der Spieler an.

Die Spiele der Meisterschaft verliefen nach Aussagen der Fachkommentatoren auf durchaus ordentlichem Niveau, wobei fraglich bleibt, ob sich die deutschen Frisbee-Asse von ihrem vierten Platz bei der letzten Weltmeisterschaft weiter nach vorn werfen können. Denn entgegen anderen Sportarten bleibt hier der Zuwachs durch übernommenes DDR-Reservoir äußerst gering. Am Turnier beteiligten sich alle Ultimate Frisbee-Spieler der fünf eingemeindeten Neu-Bundesländer: das waren die „Säxy Divers“ aus Leipzig. Sie hatten zwar auch in der dritten Liga keine Chance, aber für einen ordentlichen Frisbee-Fez am nächsten Sommerstrand reicht's allemal. Hagen Boßdorf