Szenen eines zweisamen Wahns

Warum ertragen Frauen jahrelang Mißhandlungen durch ihre Männer? Wie entstehen symbiotische Gewaltbeziehungen? Susan Brownmiller zeichnet in ihrem Reportage-Roman „Es geschah bei den Nachbarn“ beeindruckend die psychosozialen Muster nach, die Frauenmißhandlung möglich machen.  ■ Von Helga Lukoschat

Waverly Place in Greenwich Village, New York. Wer hier wohnt, hat es zu etwas gebracht. Anwälte, Journalistinnen, Ärzte. An einem frühen Novembermorgen wird ein Notruf- Team in das Haus Waverly Place 104 gerufen. Es soll einem Kind mit Atemstillstand das Leben retten. Eine zerschundene Frau mit verwüstetem Gesicht öffnet die Tür zu einer heruntergekommenen, abgedunkelten Wohnung. Die Sanitäter finden einen verwahrlosten Säugling, treffen dann auf einen Mann, einen attraktiven Mittvierziger, der ein lebloses Kind auf den Armen trägt. Das kleine Mädchen stirbt später an den Folgen eines Blutgerinnsels im Gehirn, es wurde mit dem Kopf an die Wand geschleudert. Der Mann, der Anwalt Barry Kantor gibt sich bei den ersten Vernehmungen selbstsicher. Die mißhandelte Frau, die Lektorin Judith Winogard, schweigt apathisch — selbst als sie vom Tod des Mädchens erfährt. Am Abend Pressetermin: die Anklage gegen Kantor/Winograd lautet auf Mord, Mißhandlungen ersten Grades, Kindesvernachlässigung. Vor den laufenden Kameras flüstert die Frau ihrem Peiniger zu: „Ich liebe dich.“

Susan Brownmillers Roman Waverly Place (im Galgenberg-Verlag unter dem Titel Es geschah bei den Nachbarn erschienen) beginnt dramatisch, im Stil einer großen Zeitungsreportage. Brownmiller, Sachbuchautorin und Journalistin, ließ sich von einem Fall aus dem Jahre 1987, der die US-amerikanische Öffentlichkeit über Wochen beschäftigte, zu ihrem Roman bewegen. In unmittelbarer Nachbarschaft der Autorin, im Yuppieviertel Greenwich Village, hatte ein Mann seine Frau über Jahre sadistisch mißhandelt, schließlich auch die kleine Tochter qequält und sie in einem Zornesanfall totgeschlagen. Susan Brownmiller verwendete für ihren Roman alle Unterlagen und Veröffentlichungen, die über den Fall bekannt wurden, profitierte von ihrem Wissen über Gewalt gegen Frauen, las die Literatur über Kindesmißhandlung und erfand die Geschichte neu — so, wie sie passiert sein könnte. In ihrem Vorwort heißt es, daß alle Charaktere des Romnans in ihrer Vorstellung entstanden: „Ich begab mich in die schizophrene Welt meiner Protagonisten, um ihren zweisamen Wahn verstehen und die Szenen ihrer Gewalt nachzeichnen zu können.“ Es ist ihr meisterhaft gelungen. Brownmiller beschreibt die selbstzerstörerische Abhängigkeit ihrer weiblichen Protagonistin, die Hilflosigkeit oder Gleichgültigkeit der KollegInnen, Nachbarn, Eltern, mit nüchternen Intensität, in einer präzisen, unsentimentalen Sprache (von Christoph Plate hervorragend ins Deutsche übersetzt). Mit Gegen unseren Willen, einer Studie über Vergewaltigungen, schrieb Susan Brownmiller in den siebziger Jahren einen feministischen Klassiker; mit Waverly Place ist ihr das, fast 15 Jahre später, erneut gelungen.

Die Story beginnt Anfang der Siebziger: Die Frauen tragen lange Röcke, die Männer Jeans und Bärte, Sex gilt als emanzipatorisch. Judith Winogard, das ist die verschüchterte jüdische Lehrerin aus Brooklyn, die, meist erfolglos, mit ihrer Freundin Carol auf Männersuche ist und davon träumt, einen Roman zu schreiben. Als der Anwalt Barry Kantor ein Verhältnis mit ihr anfängt, ist sie überzeugt, ihren Märchenprinzen gefunden zu haben. Nie läuft Sex ohne Dope, Judith fühlt sich „orgiastisch“ wie noch nie bei einem Mann. Susan Brownmiller beschreibt ihre Vereinnahmung, ihre zunehmende Unterwerfung unter die Wünsche des Mannes und die beginnende zerstörerische Symbiose aus der Distanz der neutralen Erzählerin; die verschiedenen Etappen der Geschichte tragen nüchtern Datumsangaben, lesen sich wie ein Bericht. Aber Susan Brownmiller leistet zugleich die Parteinahme: Immer wieder gibt es kurze Passagen, die in der Perspektive der weiblichen Protagonistin erzählt sind, ihre quälerischen Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle offenlegen, ihre verzweifelten Deutungen des Verhalten des Mannes. Als er sie zum ersten Mal auf offener Straße schlägt, bedeutet ihr der Schmerz Intensität, eine neue Verbundenheit mit dem Mann, den bedingungslos zu lieben sie beschlossen hat. Später, wenn die Prügel zu häufig, der Schmerz zu unerträglich wird, wird sie sich mit Drogen fühllos machen.

Beide, Judith wie Barry, wurden in der Kindheit gedemütigt. Ledergürtel und Kleiderbügel waren die Erziehungsgeräte für den kleinen jüdischen Jungen aus der Bronx. Judith wurden körperliche Mißhandlungen erspart: Dennoch lernte sie gründlich, nichts wert zu sein. Schreckenswort ihrer Kindheit, aus dem Mund ihrer Mutter, die bei Ärger ins Jiddische verfiel: „,Livergut'. So habe ich es gehört. Livergut. Eine blutige, breiig schleimige und ekelerregende lilafarbene Masse aus Innereien. ,Aii Livergut'. Ich. Die häßlichste Melodie meiner Kindheit war das, das Schicksal, das ich bekämpfte, die lebenslängliche Verurteilung, der ich widerstand. Ich lag dann neben der Heizung und heulte mir die Augen aus dem Kopf, während die peinigenden Silben in meinen Ohren hämmerten.“ Spät erst macht sie die Entdeckung, daß sie das Jiddische all die Jahre falsch verstanden hatte: „Aii, lieber Gott“, hatte ihre Mutter gerufen.

Judith, die nichts anderes kennt, als die Schuld bei sich zu suchen, wird die ideale Partnerin für Barry, der seine Aggressionen in wütendem Jähzorn nach außen richtet, andere für sein eigenes Versagen bestraft. Die psychischen Strukturen greifen auf fatale Weise ineinander, als seien Mann und Frau in ihrer Kindheit aufeinander abgerichet worden. Hat Barry es zu weit getrieben, reicht ein „Aber ich brauche dich doch“, um Judith erneut an ihn zu binden. Er, der Traummann, braucht sie, das Aschenputtel: Das ist das emotionale Band, das sie an den Mann fesselt. Sie ist auserwählt, seine Kindheitswunden zu heilen. Judith wird zur Frau, die zuviel liebt.

Je mehr berufliche Niederlagen Barry einstecken muß, desto mehr hat Judith zu leiden. Seine Aggression stachelt besonders an: Judith hat es inzwischen geschafft, in einem anerkannten Verlag als Lektorin für Kinderbücher zu arbeiten, sie steht sogar am Beginn einer Karriere. Natürlich fallen den Kolleginnen die aufgesprungenen Lippen auf, die geschwollenen Augen, die Schürfungen an Armen und Beinen. Aber ihre Chefin, liberal, aufgeklärt, will sich nicht in das „Privatleben“ ihrer Angestellten einmischen, legt sich das Ganze als freiwillige Variante von Sado-Maso-Spielchen zurecht. Und eine andere Kollegin, mit durchaus feministischer Weltsicht, sorgt sich zwar um die unterdrückte Kollegin, aber als sie von Judith zurückgewiesen wird, reagiert sie ihrerseits mit beleidigtem Rückzug. Und die Nachbarn? Das schwule Pärchen vom Stockwerk tiefer legt sich Mahlers achte Sinfonie auf, wenn das Geschrei zu störend wird, die erfolgreiche Journalistin von nebenan stopft sich Oropax in die Ohren.

Susan Brownmiller beschreibt nur in zwei, drei Szenen detailliert die Gewalt, aber das reicht aus für Alpträume. Und die Leserin fragt sich immer gepeinigter: Warum unternimmt niemand etwas? Wieso ist das möglich? Und Brownmiller macht Seite um Seite klar und plausibel, daß es genau so möglich ist. Weil alle Beteiligten ihre Gründe haben, nicht zu handeln. Weil Hilferufe falsch verstanden oder übersehen werden. Weil es eine Privatsache ist. Weil Judith selbst von ihrem einzigen Freund als „hoffnungsloser Fall“ abgestempelt wird und niemand im hektischen, erfolgssüchtigen New York die nötige Zeit aufbringen will, sich der gepeinigten Frau anzunehmen. Weil niemand erkennt, daß Judiths Abhängigkeit zur Krankheit geworden ist und sie professionelle Hilfe braucht.

24.000 Frauen suchen jährlich in der Bundesrepublik Zuflucht in Frauenhäusern, gab kürzlich erst die Frauenministerin bekannt. Die Zahl der Frauen, die geschlagen und mißhandelt werden, liegt höher, alle wissen es. 24.000 Frauen, selbstverständlich empörte ich mich, als ich die Meldung las, daß die Bundesregierung kein Geld für die Frauenhäuser zu Verfügung stellt. Weitere Gedanken machte ich mir nicht. Ich wünsche Susan Brownmillers Roman eine Auflage, die in die Hunderttausende geht.

Susan Brownmiller, Es geschah bei den Nachbarn, Verlag am Galgenberg, Hamburg 1990, 38 DM.