Das eingeweckte Leben

■ Judith Kerr bei den »Berliner Lektionen«

Es ist offensichtlich ein lebenslanges Verhängnis, als Tochter eines berühtem Vaters geboren zu sein: wenn frau, anstatt über ihr eigenes Leben sprechen zu dürfen, aufgefordert wird, alles zu erzählen, was sie noch vom Leben des Vaters weiß. Und von Berlin, das sie mit zehn Jahren verlassen mußte. Da kommt ein ganz durchschnittliches Kinderleben heraus.

So wie Judith Kerr. Sie hat den von den Berliner Festspielen an sie ergangenen Auftrag ernst genommen und sich nicht über die Perspektive der Zehnjährigen hinausbewegt. Ihr Vater Alfred, so begann sie und deutete auf die Sitzreihen, habe häufig dort, in der dritten Reihe des Theaters, gesessen, von dessen Bühne aus sie am Sonntag morgen nun zum Publikum sprach. Sie habe damals nicht einmal seinen Beruf verstanden, das Wort »Kritiker« habe sich im Kindermund im Gegensatz zu »Metzger« immer irgendwie umgedreht.

»Aber daran sollten Sie sich doch erinnern«: Diese Aufforderung, ein Leben lang an die Tochter des Berühmten ergangen, bestimmte auch jetzt ihre Vortragsart. Sie holte alles herbei, woran sie sich im Zusammenhang mit Berlin nur irgendwie erinnern konnte. Politische Vorgänge zu Beginn der dreißiger Jahre gehörten da nicht dazu. So hörte man etwas von einem rosa Stoffkaninchen, mit dem sie abends ins Bett ging, während ihr Vater für seine Berühmtheit schrieb, und davon, daß sie eben keine Reinhardt-Aufführung und keine Elisabeth Bergner sah, von Pfefferminzpastillen, die ihr Vater ihr gelegentlich gab, wenn es ihr gelang, die Bücher- und Zeitungsberge in seinem Arbeitszimmer zu überwinden, und von »über allen Gipfeln ist Ruh«, worin die väterliche Unterweisung bestand.

In einem gewandten, nur mit einem leicht englischen Akzent eingefärbten Deutsch schilderte sie in unterhaltsamen Episoden ein großbürgerliches Leben der Vorkriegszeit. Die Mutter, dreißiger Jahre jünger als der Vater, war Komponistin, arbeitete an der Vertonung eines Librettos von Alfred, für den Haushalt und die Kinder waren eine Gouvernante, ein Stubenmädchen, eine Waschfrau, eine Köchin und eine Plätterin zuständig. Judith schwor sich damals, nie Mutter zu werden, da das immer mit Notenschreiben verbunden war. Das ganz normale Leben der Judith Kerr: die Geborgenheit in einer Familie, in der man wie alle anderen Weihnachten mit Tannenbaum und Stille-Nacht-heilige-Nacht-Singen feierte und in der die Lektüre des Alten Testamentes bei der Abraham-Isaak-Episode beendet wurde, als ihr Bruder eines Nachts im Traum schrie, er wolle nicht geopfert werden.

Sie nannte es das »eingeweckte Leben«, aus dem sie erst durch die plötzliche Abreise der Familie, 1933 nach Zürich, gerissen wurde. Damals hatte sie nicht gewußt, daß eines der von ihr besuchten Kinderfeste, auf dem Charlie Chaplin anwesend war, von dem französischen Botschafter Fran¿ois Poncet aus Protest gegen den Antisemitismus veranstaltet worden war.

Und erst später verstand sie, warum ihr Vater, der seinerzeit mit Gerhardt Hauptmann Brüderschaft getrunken hatte, im Exil sagte, er könne ihm »das« (seine Kollaboration) nie verzeihen. Die Verbindung nach Berlin brach nach und nach ab, da alle Mitglieder der Familie emigriert waren. Nur ein Freund ihres Vaters, den sie besondes gemocht hatte, da er wie sie Tiere liebte und sie immer in den Zoo mitnahm, schrieb ihnen ins Londoner Exil: »The more I see of men, the more I love animals.« Als den Juden der Zoobesuch verboten wurde, hat er Selbstmord verübt.

Judith Kerr, heute veiheiratet mit dem Schriftsteller Nigel Kneale und Mutter zweier Kinder, ist in England als Kinderbuchautorin und -illustratorin bekannt. Sie hat drei autobiographisch gefärbte Romane geschrieben: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (1973, deutsch von Annemarie Böll), Warten bis der Frieden kommt (1975) und Eine Art Familientreffen (1979), in denen sie aus der Kinderperspektive Flucht und Exil ihrer Familie und ihre Auseinandersetzung mit der Elterngeneration erzählt. Dort kann man nachlesen, worüber zu sprechen ihr in Berlin nicht erlaubt worden war. Michaela Ott