Zauberer ohne stille Einkehr

Jörg Roßkopf steht beim Ranglistenturnier Top-12 ganz selbstverständlich über allen anderen Tischtennisspielern, bei den Frauen bleibt Nicole Struse ebenfalls ohne Niederlage  ■ Aus Berlin Manfred Kriener

Es waren gerade noch zehn Minuten bis zum Beginn des Finales der Herren. In der Sporthalle Schöneberg sitzt Jörg Roßkopf hinter der Box und diskutiert mit seinem Bruder über die Heimfahrt, über irgendein defektes Auto, und wer wen am besten zum Flughafen bringt und wieder abholt. Es folgt ein trostspendendes Wort für den im Viertelfinale ausgeschiedenen Thomas Roßkopf, dann wird die Vorhandseite des Schlägers neu beklebt, eine kurze Dehnübung absolviert und: basta. Das Finale des Deutschen Ranglisten-Turniers kann beginnen, der Champion steht bereit.

Konzentrationsphase? Aufwärmtraining? Stille Einkehr? Taktische Einweisung durch den Coach? Lockerungsübungen? Nicht bei Roßkopf. Die Nummer eins in Deutschland strahlt eine schier beängstigende Sicherheit und Lockerheit aus. Und es ist nicht einmal Überheblichkeit, wenn er „frisch vom Stuhl“ in ein bundesdeutsches Endspiel steigt, es ist so normal und so selbstverständlich wie das Resultat dieses Finales: Roßkopf schlägt Georg Zsolt- Böhm — wieder einmal — souverän mit 3:0.

Er sei technisch und spielerisch in diesem Jahr noch besser geworden, behauptet Roßkopf von sich selbst. Ob es stimmt? Schon allein, daß Roßkopf glaubt, er spiele besser, würde vollkommen ausreichen, um tatsächlich besser zu spielen. Mentale Stärke heißt das dann, oder: neues Selbstvertrauen. Bei Roßkopf kommt für seine Gegner erschwerend hinzu: Es ist nicht auszuschließen, daß er spielerisch vielleicht wirklich noch einen Tick zugelegt hat. Auffällig war jedenfalls die Leichtigkeit, mit der er die nationalen Top-12 in Berlin gewann.

„Wenn'sem Schorsch amoal rollt“

Und auffällig auch seine hohe Quote spektakulärer Bälle, die sich längst von Physik und Verstand verabschiedet haben. Selbst wenn Roßkopf unter Druck gerät und falsch zum Ball steht, kann er allein aus dem Händchen heraus die ungeheuersten Dinger hervorzaubern. Auch ohne volle Konzentration, ohne alles zu geben, blieb Roßkopf in Berlin ungeschlagen, nur beim Bruderduell im Viertelfinale hatte er unerwartete Mühe.

Symptomatisch für das Herren- Finale waren die letzten fünf Bälle. Böhm, der noch im Halbfinale überragend gespielt hatte, führte 19:16. Dann schlug Roßkopf auf, zog viermal schon den ersten Return voll durch und traf viermal: 20:19. Den letzten verschlug der entnervte Böhm selbst. 21:19, Ende, nach dem 21:15, 21:19 der ersten beiden Sätze.

Georg Böhm, der unverändert hart an sich arbeitet und fleißig wie kein anderer deutscher Spitzenspieler trainiert, hatte im Halbfinale gegen den Milbertshofener Hansi Fischer das beste Spiel des Turniers gezeigt. „Wenn'sem Schorsch amoal rollt, no kommsch nemme durch“, schwäbelte der Ex-Reutlinger Peter Stellwag anerkennend über das „Superspiel“ von Böhm, der wie eine Mauer am Tisch stand und mehrfach selbst große „Geräte“ von Fischer mühelos zurücklegte. Doch gegen Roßkopf hat er schon zu oft verloren, ist der innere Druck viel zu groß.

Der gepachtete zweite Platz sitzt dem Grenzauer inzwischen schwer auf der Schulter. Und zu allem Übel: Böhm „liegt“ dem Doppel-Weltmeister auch noch. Um gegen Roßkopf zu gewinnen, müßte Böhm aggressiver spielen, selbst mehr Druck machen. Nur wie, wenn Roßkopf spätestens den zweiten Ball krachend zurückschickt?

Zwei andere Namen gehören noch zur Chronistenpflicht der Berliner Top-12. Einmal Peter Stellwag, der das Turnier erneut physisch nicht durchstand und schon am ersten Tag verletzt ausstieg. Der Ex-Nationalspieler, der vor 18 Jahren seine erste Rangliste ebenfalls in Berlin spielte, kündigte an, daß dies wohl seine letzte war. Abschied von einem der Großen im deutschen Tischtennis. Und dann war da noch die Überraschung von Berlin: Richard Prauße. Der 22jährige Steinhagener, der nicht zum Kreis der Nationalmannschaft gehört, zeigte sich stark verbessert, stieß ins Halbfinale vor und gewann dort sogar einen Satz gegen Roßkopf. Allerdings: Mit Fetzner, Franz und Wosik fehlten gleich drei der Besten in Berlin, sie waren verletzt oder hatten einfach keine Lust. In bester Besetzung spielte dagegen die Frauen-Rangliste. Olga Nemes zeigte sich trotz Krankenhausaufenthalt und Trainingsrückstand schon wieder in guter Form und blieb in ihrer Gruppe ungeschlagen. Ihr Hauptproblem: Sie versucht anders zu spielen, nachdem alle Welt ihren Stil kritisiert hat. Ihre schnellen Blocks ganz vorne an der Platte soll sie jetzt mit mehr Spinbällen variieren. „Du kannst doch einen geschupften Ball nicht blocken“, wurde ihr gegen Nicole Struse eingeflüstert, „gib ihm doch ein bißchen Spin.“

Am Ende half's aber nichts, Nicole Struse konnte das hochklassige Damen-Finale im fünften Satz knapp gewinnen (21:16, 21:19, 9:21, 15:21, 21:16). Sie hatte mehr Dampf gemacht und Olga Nemes „stundenlang“ auf der Rückhand gehalten. Die 19jährige Steinhagenerin hat mit diesem Erfolg vor allem dem eigenen Verein gezeigt, wo's langgeht. Erst vor wenigen Tagen war Struse im Europapokalspiel in Ljubilana vereinsintern wegen disziplinarischen Problemen nicht nominiert werden: Sie hatte sich beim Training öfter mal krankgemeldet, und das sehen die Dompteure der Bundesliga nicht so gern. Um so souveräner dominierte sie dafür in Berlin, wo sie — wie Roßkopf bei den Herren — ungeschlagen blieb.

Berliner Fazit: Ein deprimierend geringes Zuschauerinteresse, Motivationsprobleme bei den Männern, wo zu viele Spitzenspieler fehlten, aber hochklassige Halbfinals und Finals bei Damen wie Herren. Die nächsten Top-12 dürften deutlich langweiliger werden: Dann fehlen Roßkopf und Nemes, die für Europas Top-12 nominiert sind.