Morde im Namen der „heiligen Nation“

Eine Terrorwelle greift in der Türkei um sich/ Radikale islamistische Gruppen haben in jüngster Zeit elf LaizistInnen ermordet/ Jüngstes Opfer: die Sozialdemokratin Bahriye Ücok/ Die Polizei, selber von Fundamentalisten durchsetzt, weiß von nichts  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die Bombe kam per Paketzustellung. Beim Öffnen des Pakets wurden Bahriye Ücok Arme und Beine zerfetzt. Sie starb unmittelbar nach dem Attentat in einer Universitätsklinik in der türkischen Hauptstadt Ankara. Der elfte Politmord seit Beginn des Jahres — wie üblich tappt die Polizei im Dunkeln.

In der Türkei hat man sich an die Politmorde gewöhnt. Die Täter wählen die Agenturen und Zeitungen an und liefern ideologische Begründungen des Mordes, im Nu versenden die Agenturen Porträts der Opfer, und die Politiker lassen Beileidsansprachen verfassen.

Die „Organisation islamische Bewegung“, die mit der „Organisation islamische Rache“ zusammenarbeitet, bekannte sich zum Attentat. Kein Zweifel an der Echtheit der Bekenneranrufe. Detaillierte Beschreibung von Zeitpunkt, Ort und Bombe ebenso wie die Widerwärtigkeit der Legitimation: Die „Hinrichtung der Ungläubigen“ erfolgte wegen „ihrer Meinung zur islamischen Bekleidung“. Die 71jährige Bahriye Ücok, Dozentin, Ex-Abgeordnete und Senatorin, war Mitglied des Parteirates der Sozialdemokratischen Volkspartei. Ihr Kampf galt dem Fundamentalismus. Die Fachfrau für türkisch-islamische Geschichte verteidigte leidenschaftlich den Laizismus und polemisierte gegen die Islamisierung der Hochschulen. Vor wenigen Wochen noch nahm sie in Deutschland an Podiumsdiskussionen teil und machte auf die fundamentalistische Gefahr in der Türkei aufmerksam. Sie hatte maßgeblichen Anteil daran, daß Donnerstag vergangener Woche ein Gesetzentwurf, der Studentinnen das Bedecken ihrer Haare per Turban erlauben sollte, zu Fall gebracht wurde.

Ebenso wie der laizistische Journalist und Schriftsteller Turan Dursun, der am 4. September einem islamischen Killerkommando zum Opfer fiel, wies Ücok eine islamische Vergangenheit auf. Bereits als Sechsjährige kannte sie den Koran auswendig. Später — sie stieg zur Dekanin der theologischen Fakultät in Ankara auf — beschäftigte sie sich wissenschaftlich mit dem Islam. Die Forschungsergebnisse in ihren Büchern, wie Frauenherrscher in islamischen Staaten und Mode in der islamischen Geschichte, waren für die Fundamentalisten Ketzerei: die Freizügigkeit der Frauen bei der Bekleidung in der Frühphase des Islam, der Gebrauch von Schminke, der Prophet Mohammed, der sein Haar färbt, um jung auszusehen.

Die islamistische Terrorwelle — in den siebziger Jahren in der Türkei unbekannt — gehört heute zum Alltag. Seit Anfang des Jahres sind vier prominente laizistische Persönlichkeiten ermordet worden. Von den Tätern fehlt jede Spur.

Während die Zeitungen in aller Ausführlichkeit über die „Bekenneranrufe“ berichten, weiß Nusret Demiral, der Oberstaatsanwalt beim Staatssicherheitsgericht Ankara — er rühmt sich, den Atem jedes Linken auszuhorchen — „nichts“. In einem Land, wo Polizisten flink jeden linkslastigen Flugblattverteiler in die Folterkammer führen, um Informationen über „illegale Organisationen“ auszupressen, hat man von kriminellen islamischen Mörderbanden nie etwas gehört.

Zeitgleich zum Mord in Ankara ging das Lager des kritischen Verlages „Sosyal“ in Istanbul in Flammen auf: Brandstiftung. Die zwölfbändige Koran-Enyklopädie des ermordeten Anti-Islamisten Turan Dursun findet aufgrund von Morddrohungen keinen Verleger, und gegen Dutzende Autoren sind Todesfatwas erlassen. So gegen den Professor Ilhan Arsel, der mit seinem Buch Scharia und Frau den Zorn der „heiligen Mörder“ auf sich zog. Die Perfidie der Geschichte: Nur einen Tag nach dem Mord konnte die islamische Wohlfahrtspartei ihren Jahreskongreß in Ankara eröffnen. „Oh heilige Nation. Bekehre dich zum nationalen Ideal, bevor du dich in Blut findest“, war auf den Transparenten zu lesen.

Den putschenden Militärs des Jahres 1980, wie auch der heute regierenden Mutterlandspartei, kam die Islamisierung der Gesellschaft schon immer als Mittel gegen die linke Gefahr gelegen. Selbst reaktionäre Organisationen wie die saudische Rabita ließen dem türkischen Staat Geld zukommen, um ihr ideologisches Gift zu verstreuen. Systematisch wurde der Polizeiapparat mit fundamentalistischen Führungskadern durchsetzt.

Die Sozialdemokraten wollen anläßlich der Beerdigung von Bahriye Ücok am heutigen Dienstag eine Massenkundgebung in Ankara „für Demokratie und Laizismus“ durchführen. Beileidsansprachen häufen sich. „Das barbarische Attentat hat zweifelsohne das freie, demokratische Regime zum Ziel“, erklärt der türkische Innenminister Abdülkadir Aksu. Doch jedermann weiß, wie beruhigend es ist, daß der Apparat des Ministers die Täter nicht finden wird. Ein Prozeß würde vielen Männern in Amtssesseln Unannehmlichkeiten bereiten.

Bleibt nur die Empfehlung eines Kolumnisten an die Kabinettsmitglieder für die Zukunft: den Schneider anweisen, ein paar schwarze Anzüge mehr maßzuschneidern, die Beileidsansprachen standardisieren, und mit saudischen Geldern noch mehr Polizisten nach Mekka und in die Koran-Kurse schicken.