Wahlboykott entzweit „Radikale Linke“

Mehrheit beschließt: „Keine Stimme für Deutschland. Reichstagswahlen ohne uns“/ PDS läßt „Radikale Linke“ kleiner werden  ■ Von Walter Jakobs

Köln (taz) — Am Samstag abend schien die Spaltung der „Radikalen Linken“ (RL) unausweichlich, doch dann einigten sich die rund 100 TeilnehmerInnen des Treffens doch auf einen Kompromiß. Streitpunkt: das Thema Wahlboykott. Während der grüne Radikalökologe Manfred Zieran den Boykott als „schädlich“ einstufte, sah der Hamburger Altlinke Karl Heinz Roth im „radikalen Boykott“ so etwas wie die letzte Chance für eine „politische Option“ in Deutschland. Angesichts der „bedingungslosen Kapitulation linker Politik“ in der DDR und den daraus folgenden Transformationsprozessen in der BRD, bleibe ihm, so Roth, „entweder nur die Emigration“ oder ein Wiederansatz außerparlamentarischer Politik. Die Hoffnung auf den Parlamentarismus sei heute „so illusionär wie nie zuvor“, der aktive Wahlboykott deshalb zwingend „zur Rekonstruktion“ der Linken nötig.

Jutta Ditfurth, aussichtsreiche grüne Bundestagskandidatin in München, widersprach heftig. Den Wahlboykott als einzige antinationale Option auszugeben, sei „eine totale Überhöhung“. Ditfurth argumentierte, daß „antinationale Poltik gegen Großdeutschland“ auch über parlamentarische Beteiligungen gestärkt werden könne. Ihr langjähriger politischer Weggefährte, Manfred Zieran, brachte seine politische Option auf diese Kurzformel: „Ich bin noch Mitglied der Grünen, will den Parlamentarismus abschaffen, bin für die Einheit von legaler und illegaler Aktion und werde die PDS wählen.“

Für den Ex-Vorstandssprecher der Grünen, Rainer Trampert, befindet sich Zieran damit direkt auf dem Weg „vom Regen in die Traufe“. Das „sozialreformerische Vaterlandsprojekt“ à la PDS sei „für die Linke ein Schuß in den Ofen“. Die RL habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß der Antiparlamentarismus „nicht vom Reformismus zugeschissen wird“. Deshalb sei ein „klares Nein zur Reichstagswahl“ erforderlich. Daß sich selbst Autonome für „die großdeutsche vaterländische Partei PDS“ erwärmten, führte Trampert auf die „völlig unverdienten Schläge“ zurück, die der Staat in Richtung PDS austeile. Einige Autonome verführen nach dem Motto: „Womit können wir den Staat am meisten ärgern?“, und landeten so bei der PDS. Weite Teile der RL seien, so stellte ein Teilnehmer bedauernd fest, „inzwischen zur PDS übergelaufen“. Eine Entwicklung, die Thomas Ebermann, einst einer der wichtigsten GAL-Politiker, nicht schreckt. Im Gegenteil sei das ein Klärungsprozeß, zeige doch der Run auf die PDS, daß das „treibende Motiv vieler Linker der Karrierismus und nicht die politische Position ist“. Angesichts der Enwicklung und der Erfahrung der Grünen steht für Ebermann fest, daß die parlamentarische Beteiligung letztlich — trotz bester Absichten von Individuen — zur Integration und Pazifizierung rebellischer Systemopposition führt und damit von Übel ist. Für die RL gehe es darum, „antiinstitutionelle Konsequenz“ zu zeigen.

Eine Position, die für die linksradikale Formation zusehends zum Sprengsatz gerät. Denn immerhin kandidieren maßgebliche Unterstützer der RL für das Parlament, so Winfried Wolf und Jakob Moneta für die PDS und Jutta Ditfurth für die Grünen. So zeigte sich Wolf denn auch „erschrocken und geplättet“ über die rigorose Position von Karl Heinz Roth, der eine dem Gegenstand völlig unangemessene „Dramatik“ in die Debatte gebracht habe. Eine „Mehrheitsentscheidung“ der RL zum Wahlboykott wertete Wolf während der Debatte als „Katastrophe“.

Zur Spaltung führte die Entscheidung indessen nicht. Die Verlierer gaben sich damit zufrieden, daß die Minderheitsposition im Aufruf enthalten sein wird. Einstimmig beschlossen die „Radikalen Linken“, am 2.Dezember, dem Wahltag, eine Konferenz unter dem Motto „Außerparlamentarische Opposition gegen Deutschland“ zu veranstalten. Am 3. 11. soll in Berlin gegen den „deutschen Nationalismus, Rassismus und Imperialismus“ demonstriert werden. Den früheren DDR-Bürgern öffnet der Demonstrationsaufruf noch einmal mit päpstlicher Gewißheit die Augen über das tatsächliche Wesen des Kapitalismus: „Profit für wenige — Zerstörung der Umwelt- und Lebensbedingungen für alle“. Wichtigste aktuelle Aufgabe sei es, den Zusammenbruch im Osten vom „Blickwinkel des Kommunismus aus“ zu kritisieren, insistierte ein Teilnehmer, der „nicht einsehen“ mochte, „warum ich meine Position, die ich in den letzten 15 Jahren entwickelt habe, aufgeben soll“. Vielleicht wird während der Konferenz am 2. 12. wenigstens die Frage eines PDS-Mitgliedes beantwortet, die am Samstag in Köln hilflos verschämt überhört wurde. „Was heißt eigentlich“, so wollte er wissen, „,Kein Deutschland‘? Man kann dieses Land doch nicht wieder teilen.“