Wachheitswünsche und Droge Tee

■ Karl Wassenberg, Bremer Sozialwissenschaftler, über Teetrinken, ostfriesische Pietisten und die Kultur der Wachheit

hierhin bitte das

Porträtfoto von dem

mittelalten Herrn

Karl Wassenberg,Foto: M.H.

taz: Sie haben eine Doktorarbeit über Tee in Ostfriesland geschrieben. Ich vermute mal, daß es da nicht nur um Sahne-oder Kandisprobleme geht.

Karl Wassenberg: Das ganze ist eine soziologische Fallstudie zur Drogenkultur in Europa. Das hört sich wohl etwas merkwürdig an, Tee und Drogen. Aber man muß bedenken, woher das Wort Droge kommt: das kommt von getrockneten Kräutern, drog assoziiert das Wort trocken. Es geht darum, welche Drogen wir eigentlich im Alltag benutzen. Und da ist auch eine Koffein-Droge eine Droge in dem Sinn, daß sie ein psychoaktiver Wirkstoff ist, sonst würden wir ja keinen Tee oder Kaffee trinken.

Klingt gut: Tee macht mich psychoaktiv!

Also auf deutsch: Er macht wach! Ich fange mal da an, wo der Tee nach Ostfriesland kam, so um 1680. Schon 1710 wird er zum Alltags-Getränk reicher Marschbauern. Dazu müssen wir wissen: Was wurde denn damals getrunken? In der Regel Bier oder Milch. Milch war ein Armeleutegetränk, Bier war ein Hausgetränk, was schon kleine Kinder zum Frühstück tranken oder aßen als Brei. Und es scheint dann tatsächlich eine Bevölkerungsgruppe gegeben zu haben, die sehr bewußt von einer Droge auf eine andere umgestiegen ist. Die vom täglichen Alkoholtrinken und -essen loskommen und zu einem nichtberauschenden Getränk kommen wollten, das war der Tee. Als ein Wachheitswunsch einer kleinen pietistischen Gemeinde, letztendlich der Hardliner der calvinistischen Schule.

Was hatten die Calvinisten denn gegen den Alkohol?

Diese calvinistische Gemeinde mit Hauptsitz in Emden hatte natürlich auch politische Gründe, gegen das tagtägliche und ausschweifende Biertrinken zu opponieren. Man muß sich die (Trink-) Sitten damals sehr viel wilder vorstellen als heute. Ein Beispiel: Es gab Hochzeitsumzüge, die sich in der Kirche prügelten, um erste zu sein. Die calvinistische Gemeinde hatte nun eine Beruhigung des sittlichen Lebens vor Augen. Sie hat damals eine Studie machen lassen zu der Frage: was sagt Gott zum Trunkenbold? Bei den Katholiken sagte er dazu gar nichts, bei den Evangelischen gab es die Möglichkeit, während der Trunkenheit zu sündigen, aber bei den Calvinisten kam man dazu: Die Trunkenheit an sich ist eine Sünde. Und Gott straft den Trunkenbold auf Erden; dadurch, daß er tagtäglich immer wieder trinken zwanghaft muß. Wir würden heute sagen: er straft ihn durch Kontrollverlust, durch Sucht. Deshalb bin ich der Meinung, daß dieser Zeitpunkt die Stunde Null der Suchterfindung war.

Wo ist denn jetzt der Tee geblieben?

Es kommt jetzt zu starken Alkoholverboten, diese Sanktionen funktionieren aber nicht richtig. Man verzichtet eben nicht gerne. 100 Jahre später führt die Niederländisch-Ostindische Kompanie aus Holland, der calvinistischen Republik, eine neue Droge, eben den Tee, aus einem Land ein, wo angeblich vorher das Paradies war: aus China. Und weil die Calvinisten nach dem 30jährigen Krieg die Idee haben, Gott hätte sie gestraft für falsches Leben, beginnen sie, sehr viel härter ihr tägliches Leben auf Gottgefälligkeit hin zu kontrollieren. Aber Gott hat eine barmherzige Hilfe gesandt: Tee. Die Menschen in Ostfriesland, in diesen kleinen calvinistischen Gemeinden fangen nun an, Kirchenlieder über Tee zu singen. Diese Lieder handeln meistens von der Wirkung des Tees; Und davon, daß der Kaufmann keinen hohen Aufpreis verlangt. Diese Droge erlaubt nun also, die Sünden abzuwehren und gleichzeitig einen Wachheitszustand hervorzurufen, der als Aufnahme des Heiligen Geistes in das Individuum interpretiert wurde; diese doppelte Wirkung soll das Göttliche im Teetrinken sein. Dazu muß man sagen, daß zu dieser Zeit die Medizin anfängt, sich für das Innenleben des menschlichen Körpers zu interessieren. Der Arzt Bontekoe beginnt in Holland, die Leichen alkoholischer Vieltrinker zu öffnen, findet somatische Veränderungen und kommt zu dem Urteil: der Alkoholiker ist krank, eine Art körperlicher Verfall. Dieser körperliche Verfall wird ausgelöst durch exzessives alkoholisches Fehltrinken, aber auch durch Tanzen, Kartenspielen, Komödienspielen — also alles das, was nicht gottgefällig ist. Man beginnt jetzt zu sagen: der Trunkenbold ist nicht mehr sündig, sondern krank. Es gibt dagegen eine Rettung: Das ist wieder der Tee! Tee macht wach, Tee macht arbeitsfähig, Tee verbessert die blutfließenden Eigenschaften. Das führt sofort dazu, daß die calvinistischen Gemeinden sich mit dieser medizinischen Schule darum zanken, wer denn jetzt die Traurigkeit des Menschen definiert. Bontekoe sagt: die Traurigkeit des Menschen ist somatisch, die Calvinisten sagen: sie ist die Einsicht in die Sünden. Die herkömmliche Medizin sagt aber: das Biertrinken dient der Abdämpfung eines inneren Feuers. Das tägliche Alkohol-und Biertrinken erlebt ab 1750 wieder eine Renaissance in den nordischen Provinzen, ist auch für Kleinkinder wieder ratsam, während — jetzt wird es drogenpolitisch interessant — Kaffee, aber besonders Tee dem körperlichen Verfall dienen, Lähmungserscheinungen hervorrufen und zum Tode führen soll. Also grade das, was die Teetrinker politisch wie religiös erreichen wollten, wird jetzt als ein Krankheitsbild des Teetrinkers beschrieben. Es wird Vivisektion gemacht mit Fröschen, deren Nerven eingerieben werden mit Tee und man stellt fest: nach einer Viertelstunde sind die Armen tot, also muß Tee Lähmungserscheinungen hervorrufen, was man auch daran sieht: die Ostfriesen sprechen nicht, bewegen sich nicht richtig. Das tägliche Alkoholtrinken wird ab Mite des 18.Jh. also wieder befürwortet, der Tee abgelehnt, und wir haben so ab 1780 die ersten Tee-und Kaffeeverbote bis hin zu schweren Kerkerstrafen. Im übrigen gibt es da auch schon die ersten Alkohol-Prophylaxe-Bewegungen.

Was bewegt einen dazu, über Tee eine Dissertation zu schreiben?

Ich habe mein sozialwissenschaftliches Studium in Oldenburg abgeschlossen mit einer Arbeit „Alkohol und Arbeitswelt“, das war der Versuch, Alkohol nicht vom Suchtbegriff her aufzudröseln, sondern von den psychosozialen Belastungen. Mich begann dann zu interessieren, wie haben frühere Regionen, Religionen und Medizinen Alkoholprophylaxe betrieben. Haben sie das Problem wahrgenommen, oder war es so, daß früher einfach, so bis ins 18.Jh., exzessiv und täglich Alkohol getrunken wurde. Mein Ergebnis ist, daß sehr viel vorsichtiger Alkohol getrunken wurde als wir heute glauben. Zu der Tee-Arbeit kam ich durch eine Teeaustellung in Ostfriesland und durch ein Gespräch mit einem alten Kaufmann, der mir sagte: Ja, unser Tee, das ist ja eigentlich wie ein Droge; ich könnte gar nicht leben ohne. Und mir dann sagte: In unserm Nachbardorf, da trinken die gar nicht richtig Tee, aber das sind ja auch Bauern, und wir sind Fehncher, wir sind Kaufleute und Seeleute, wir sind vernünftiger als die Bauern. Und da hab' ich mir gedacht: halt, stop! Wieso verbindet der eine Koffein-Droge mit einem philosophischen Begriff, mit dem Vernunfts-Begriff. Und diesen Zusammenhang wollte ich in meiner Arbeit aufdecken: Eine erhöhte Wachheitsleistung einer Droge mit einer erhöhten Vernunftsleistung einer Kultur.

Wie verhält sich Tee denn nun wirklich zu uns?

Die herkömmliche Pharmakologie sagt immer noch: Tee macht wach, wenn sie ihn drei Minuten ziehen lassen, und Tee beruhigt, wenn sie ihn fünf oder zehn Minuten ziehen lassen. Wenn das ein Soziologe sagen würde, dann würde man ihm sagen: Red' mal anständig, was meinst du eigentlich!? Einem Pharmakologen glauben wir diesen Unsinn sofort.

Es ist echter Unsinn?

Es ist pharmakologisch nicht haltbar. Beruhigend ist das, was Sie in den Tee hineininterpretieren. Tee macht angenehm wach. Und Wachheitszustände sind ja heute gewollt. Wir schätzen ja heute übersteigerte Wachheitszustände. Unsere Kultur wünscht das auch ganz immanent.

Haben Sie Eigenversuche mit Tee gemacht?

Ja. Ich bin morgens nicht arbeitsfähig, wenn ich nicht einen großen Becher Tee getrunken habe. Allerdings nicht auf nüchternen Magen, ich frühstücke vorher mit Kaffee. Und wenn der mir die Beine flott gemacht hat, mache ich meinen Geist flott mit Tee.

Interview: claks

Das Buch zum Tee erscheint im Schusterverlag, Leer.