Bremen — Stadt der eine Million Ratten

■ Die Nager kommen bis ins Bad, und alle füttern sie mit durch

Bremen: Stadt der 500.000 EinwohnerInnen und 1.000.000 Ratten. Gezählt hat die beängstigend vermehrungsfreudigen und anpassungsfähigen Nager zwar niemand, aber die Wissenschaft geht von zwei Ratten pro Großstadtmensch aus. Sie hausen vor allem unterirdisch, in den „Gedärmen der Großstadt“, dem Kanalsystem. Dort „suchgreifen“, so der Biologe Irenäus Eibl-Eibesfeld, sie alles ab, was die Oberirdischen an Lebensmittelresten ins Klo spülen. Das reicht allemal, um so manche Ratte dick und fett zu machen.

Solange sie unter der Erde herumhuschen, stört sich kaum jemand an ihnen. Wühlen und hangeln sie sich jedoch durch defekte Rohre und Kanalgitter bis in Gärten oder gar Wohnungen, bricht Panik aus. Seit den verhehrenden Pestepedemien des Mittelsalters sind sie als Krankheitsüberträger bekannt, zudem als Helfer von Hexen und Zauberern verdächtig. Auch bei aufgeklärten NeuzeitlerInnen ruft ihr Erscheinen Bilder ab, die über die Ratio hinausgehen: „Aus den Verschlägen, den Untergeschossen, den Kellern, den Kloaken stiegen sie in langen, wankenden Reihen hervor...“ Wer hat nicht in der Schule erschaudern Camus „Pest“ gelesen.

Nur zu gut kann man sich den Schock von Martina R. vorstellen, als sie in ihrer Wohnung im zweiten Stock in Findorff den Toilettendeckel hochhebt — und einer Ratte ins Gesicht sieht! Deckel zu, raus aus dem Bad, Schlüssel zweimal umgedreht. Nach schweißgebadeten Überlegungen greift sie schließlich zum Telefon und wählt 497-5551, Desinfektion und Schädlingsbekämpfung beim Hauptgesundheitsamt. Dorthin gehen auch wir, um mehr über Bremens Ratten und dren Bekämpfung zu erfahren.

Gleich an der Tür ein Bulli- Fahrer, der dem Leiter der Schädlingsbekämpfung, Fred Höltig, einen Zettel reicht und „einen Karton Rattengift“ verlangt. Den bekommt er und noch vier Beutel für seinen privaten Bedarf dazu. Den Karton braucht er für das Klärwerk Seehausen. „Jetzt zum Herbst wird das wieder mehr mit den Ratten“, erklärt der Fahrer des Amtes für Stadtentwässerung. Bis in die Aufenthaltsräume der Mitarbeiter dringen die dreisten Nager vor.

Auch zuhause, in Alt-Habenhausen, gibt es Ärger; deshalb die vier Beutel mit dem von Giftpulver blaulich gefärbten Haferflocken. Die räuberische Brut fällt in den Hühnerstall ein und frißt die Eier. Auch junge Tauben haben sie ihm schon aus dem Nest geholt. „Aber vor 15 Jahren war das noch schlimmer, da haben die Biester in den Kaisenhäusern auch schon mal ein Kind angefallen!“

„Gruselgeschichten“ will Fred Höltig nicht erzählen, das sagt er gleich. Im Zimmer des versierten Schädlingsbekämpfers hängt eine Bleistiftzeichnung, auf der eine Ratte sich frech durch ein Kanalgitter stemmt. „Possierlich“ und „süß“ findet er die Tierchen eigentlich. Mit der zahmen Ratte eines Punkers hat er schon mal Freundschaft geschlossen. Kontakt zu den Kanalratten meidet er allerdings aus hygienischen Gründen. Auch wenn die Pest in Europa so gut wie ausgerottet ist, können sie doch Salmonellenerreger und zahlreiche Krankheitskeime übertragen. Deshalb werden die Ratten von der Stadt Bremen auch kostenlos bekämpft.

Auf Höltigs Schreibtisch liegt ein Stapel Vordrucke mit der Aufschrift „Rattenmeldung“. Im Land Bremen gibt es eine Meldepflicht für Ratten. Wer die Bekämpfung selbst in die Hand nimmt und Gift aus der Apotheke holt, hat aber nichts zu befürchten. Vorbei sind allerdings die Zeiten, als die Stadt noch eine Mark „Kopfgeld“ pro erlegter Ratte zahlte.

Hilferufe von rattengeschädigten BremerInnen erhält Höltig jeden Tag, aus allen Stadtteilen. Die insgesamt sieben SchädlingsbekämpferInnen sind ständig unterwegs. Meist werden die cleveren Nager mit den so harmlos aussehenden blauen Haferflocken aus dem Weg geräumt. Sie zu überlisten, ist gar nicht so einfach, denn die extrem überlebensfähigen Rudeltiere schicken erstmal einen „Vorkoster“. Nimmt der den Köder nicht oder verendet kurz nach dem Verzehr, beißen die anderen nicht an. Deshalb verwenden die Schädlingsbekämpfer vom Gesundheitsamt ein Gift, das erst nach drei-bis viermaliger Nahrungsaufnahme zum Tod führt. Was den Ratten den Rest gibt, ist ein Blutgerinnungsmittel, wie es in anderer Dosierung auch in Medikamenten gegen Arterienverkalkung vorkommt. Die übermäßige Blutverdünnung führt zu Lähmungen, Gehirnblutungen und schließlich zum Tod. „Aber die Tiere verenden nicht qualvoll. Das geht ziemlich schnell“, beschwichtigt Höltig tierschützerische Bedenken.

„Was wir hier machen, ist eine punktuelle Befallsbekämfung“, so Höltig, „eine Totalaktion zur Ausrottung der Ratten würde die Stadt Millionen kosten.“ Außerdem würden dann die Allesfresser aus dem Umland nachrücken.

Annemarie Struß-v.Poellnitz