Kapitalismus = Wohlstand?

■ betr.: "Chancen eines neuen Deutschlands", taz vom 4.10.90

betr.: „Chancen eines neuen Deutschlands“, taz vom 4.10.90

Man kann überall hören, daß der „Sozialismus“, der „Realsozialismus“, der „Staatssozialismus“, der „Staatskapitalismus“, wie immer man das auch nennen will, zusammengebrochen ist; daß damit die Hoffnung auf eine bessere Welt im Rahmen des Kapitalismus versucht werden muß. Man hört auch Kritik an denjenign Ex-DDRlern, die sich eine rasche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen durch die Wiedervereinigung erhofft haben — und das ist die große Mehrheit.

Viele Linke befürchten sogar, daß mit dem jetzigen Zusammenbruch des Ostblocks die freie Marktwirtschaft den Ostblock erobern wird, und daß dort ähnliche Verhältnisse wie in West-Europa herrschen werden — als wären die dort herrschenden Verhältnisse humaner gewesen als die hiesigen.

In der heutigen taz ist sogar zu lesen: „...Selten hat sich eine Theorie so grundlegend in der Praxis selbst widerlegt wie die des (wissenschaftlichen) Sozialismus...“

Ich komme aus Südamerika, aus einem Land, das schon von jeher (auch offiziell) kapitalistisch ist. Dort, wie auch seit einiger Zeit in Polen, Ungarn, CSFR und so weiter, hat man (diejenigen, die es sich leisten können) von der Bevölkerung immer wieder Geduld verlangt und ihr versprochen, alles werde besser. Der Wirtschaft geht es meistens nicht so wunderbar, aber auch dort hat es schon „Epochen des ewigen ökonomischen Wachstums“ gegeben. Ob jetzt die Zahl der Hungernden größer oder kleiner ist, spielt keine Rolle, schließlich haben sie sowieso kaum Zugang zu den Medien.

Hier sind einige Fragen angebracht:

1.Meint Ihr wirklich, daß der Kapitalismus der Mehrzahl der Menschen Wohlstand bringen kann?

2.Wenn ja: Wenn es nur eine Frage der Zeit ist, warum konnte er dies nicht in der durch und durch kapitalistischen Dritten Welt? Weiterhin: Wenn der Kapitalismus wirklich Wohlstand für alle hervorbringen könnte, gäbe es dann noch einen Grund, ihn zu bekämpfen?

Ich glaube eher, daß sowohl politische und wirtschaftliche Unterdrückung als auch die Umweltzerstörung Bestandteile des Kapitalismus sind. Hier stellt sich die Frage, was Kapitalismus eigentlich ist. Kapitalismus ist grob gesagt ein System, in dem das, was die Menschheit als Ganzes geschaffen hat, von verschiedenen konkurrierenden Eliten benutzt wird, um sich die jeweils bestmögliche Stellung auf dem Weltmarkt zu sichern. Die Eliten brauchen dies nicht zuletzt, um ihre Privilegien zu sichern.

War dies im Ostblock anders? Ich glaube, nein. Doch einfach zu sagen, es war nicht anders, reicht nicht aus. Schließlich hatten 1917 die Arbeiter in Rußland die Macht erobert (siehe dazu John Reeds: Zehn Tage, die die Welt erschütterten). Was ist aus der Revolution geworden? Es ist vielleicht keine schlechte Idee daran zu erinnern, daß das revolutionäre Rußland gegen die eigene Bourgeoisie und gegen 14 andere Länder kämpfen mußte (von Japan bis Frankreich), und daß nicht zuletzt dadurch die Wurzeln des Stalinismus gelegt wurden. Rußland wurde zwar nicht erobert, aber diejenige Kraft, die den Sozialismus hätte wahrmachen können und die die Weltrevolution hätte vorantreiben können, wurde zerstört.

Wer heute den Marxismus auf den Müll wirft, vermindert damit auch die Chance der Menschheit. Wer aber noch Hoffnung und die Kraft hat, der sollte sich wirklich mit dem Marxismus auseinandersetzen und versuchen zu differenzieren zwischen dem echten und dem „mechanischen“ Marxismus, und vor allem immer vor Augen haben, daß es das Ziel des Marxismus ist, der Menschheit als Waffe im Kampf um ihre Selbstbefreiung zu dienen. Sehr wichtig ist auch die Verarbeitung der Geschichte der russischen Revolution. Eine sehr gute Quelle (trotz aller Einschätzungsfehler hinsichtlich des „sozialen Charakters der UdSSR“ am Ende der dreißiger Jahre) sind die Werke Trotzkis.

Für Marx war der Sozialismus kein Ideal; er war für ihn ein wirtschaftliches System, in dem die kollektive Kontrolle der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse, das heißt die Rechenschaftspflicht und Abwählbarkeit der Gesellschaftsverwalter, die Produktion für die verschiedenen individuellen Bedürfnisse ermöglichen würde. Für ihn wie für unter anderem Rosa Luxemburg, Trotzki, Engels, Lenin, war Sozialismus die höchste Form der Demokratie.

Es ist auch sehr wichtig, sich daran zu erinnern, daß die ganze marxistische Terminologie dazu verwendet worden ist, die Herrschaft der Stalinisten zu sichern: daher der Unmut.

Wie es weitergehen soll? Der Kapitalismus besteht weiter, er wird weiter die Umwelt zerstören, weiter Menschenleben verschwenden, bis wir ihn abschaffen oder er uns. Er wird sich im Osten nicht mehr Sozialismus nennen, aber er wird versprechen, daß alles besser wird. Er ist aber nicht (und hier muß ich sagen: leider, weil uns sonst vieles erspart bliebe) in der Lage, dieses Versprechen einzulösen. Und weil das so ist, werden diejenigen Menschen, die arbeiten müssen um zu leben, eine Alternative suchen. Ob sie auf die Idee kommen werden, die Macht kollektiv zu übernehmen und die Gesellschaft auf allen Ebenen zu demokratisieren, oder ob sie den Faschisten hinterherlaufen werden, wird auch davon abhängen, ob sie verstehen, was mit der russischen Revolution passiert ist. Rico Alva, Freiburg