Vergewaltigung als Vaterproblem

■ Zur Uraufführung von „Kalte Hände“, einem Stück über sexuellen Mißbrauch von Kindern, in Bielefeld

Ein weißer Raum. Ein weißer Tisch. Drei weiße Stühle. Ein Vater, eine Tochter, eine Mutter. Ein Täter, ein Opfer, eine Zeugin, die nichts sieht.

Familie Lehner ist eine ganz normale Familie. Herr Lehner ist Lehrer, um die 40, pflichtbewußt und angesehen. Herr Lehner mißbraucht seine Tochter. Frau Lehner hat keinen Beruf, keine Meinung, weiß von nichts und ahnt nichts. Als sie beginnt, zu begreifen und sich zu äußern, schickt der Autor sie von der Bühne. Tochter Silvia ist zwölf, ist schwanger, und ebenfalls zum Schweigen verurteilt.

Kalte Hände, ein Theaterstück des österreichischen Autors Thomas Baum, das jetzt in Bielefeld uraufgeführt wurde, beschreibt einen fiktiven Fall von sexueller Gewalt in der Familie. In acht Szenen zeigt es uns — sollte die eigene Phantasie dazu nicht ausreichen —, was sich hinter den erschreckenden Zahlen zum sexuellen Mißbrauch verbirgt.

Und so sehen wir in Szene II das Spitzenhöschen, mit dem sich die zwölfjährige Silvia für ihren Vater ins Rotlicht stellen muß. Sehen denselben, wie er, die Hand in der Hose, auf seinem Stuhl herumrutscht. Sehen in Szene VIII, wie der Vater ins Bett der Tochter schlüpft, ihre Schreie mit einem Kissen erstickt, ihre Beine auseinanderreißt und sie vergewaltigt.

„Schonungslos offen“, warnt die Theaterleitung, und folgt dem dringenden Rat einer Fachfrau, das Stück für Jugendliche unter 16 Jahren nicht zu empfehlen.

Schonungslos geht der Autor vor allem mit den Frauen um. Mit den Schauspielerinnen, die die Rollen der Tochter und Mutter spielen müssen, und mit den Frauen im Saal, die selbst Opfer von sexueller Gewalt waren oder sind. Die Ängste und Verletzungen der Betroffenen spielen in dem Theaterstück eine Nebenrolle.

Die Situation des Opfers ist ausweg- und hoffnungslos. Es erfährt weder Solidarität noch Parteilichkeit, eine Puppe dient als einziger Trost. Einer Person darf sich das Mädchen auf der Bühne anvertrauen: einem Priester in der Beichte, der sie mit drei Vaterunser und einem Gruß an den Herrn Papa nach Hause schickt.

Die Mutter wirkt hilflos und blind, sie wird zur Statistin degradiert, erscheint nur im Beisein des Vaters, eine eigenständige Beziehung zwischen Mutter und Tochter gibt es nicht, der Vater ist allgegenwärtig.

„Der sexuelle Mißbrauch des Mädchens ist zuerst einmal ein Vaterproblem...“, erklärt uns der Autor im Programmheft. Und so sehen wir ein Vaterstück, der Täter beherrscht den Raum und das Thema, er überschwemmt das wehrlose Publikum mit seinen Monologen. Redet über Wagner und Bruckner, über die Müllhalden des Lebens und die eigene Rechtschaffenheit, über seine sexuelle Frustration und die Faszination der kindlichen Naivität, über väterliches Mitleid und über die Lust der Tochter, die ihn lockt. Sein Selbstmitleid trieft vom Bühnenrand herunter.

Angeregt durch die Figur des Vaters soll der Mann im Publikum — so wünscht es der Autor — seine „heimlichen pädophilen Anteile“ entdecken und die zerstörerische Macht erkennen, wenn diese Sehnsüchte unreflektiert ausgelebt werden. Was aber macht Mann mit seiner so gewonnenen Erkenntnis? Auf der Bühne findet er keine Antwort. Der Täter bleibt unerkannt und mißbraucht weiter, die Umwelt (die neben dem Pfarrer aus Schulrektor, Schulärztin und einer Lehrerin besteht) sieht weg und jagt einen anonymen Perversling. Im Programmheft wird der Sprung von der Bühne in den Alltag nur für das Opfer hergestellt: Betroffene Frauen kommen zu Wort, Schutz und Parteilichkeit für Mädchen werden gefordert, Kontaktadressen aufgelistet. Hier scheint die Theaterleitung für die Opfer nachzuholen, was das Stück versäumt. Doch die potentiellen oder tatsächlichen Täter mit ihrem „Vaterproblem“ gehen leer aus. Männergruppen oder Beratungsstellen, die Sexualtherapien für Männer anbieten, scheinen tabu zu sein. Und dabei gibt es sie, auch in Bielefeld.

Wie das Stück — nach der erklärten Absicht des Autors — gesellschaftspolitisch verändernd wirken soll, bleibt sein Geheimnis. Die Wurzeln des sexuellen Mißbrauchs im Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen aufzuzeigen, die Mißachtung der weiblichen Autonomie und Selbstbestimmung anzuklagen ist kein vorrangiges Anliegen. Statt dessen bleibt die Eigendynamik der Triebe im Gedächtnis haften („Ich komme gegen den Zwang nicht an.“), bietet sich das Verweigern der Ehefrau als Ursache für den Mißbrauch an („ ...seit Wochen kein einziges Mal...“).

Ein männlicher Autor bringt den gesellschaftlichen Skandal des sexuellen Mißbrauchs von Kindern auf die Bühne, und Bielefelder Fachfrauen, die in Institutionen und autonomen Fraueninitiativen mit betroffenen Mädchen und Frauen arbeiten, sind nicht bereit, das Ergebnis als „künstlerische Freiheit“ hinzunehmen. Sie fordern die Absetzung des Stückes und schreiben in ihre Stellungnahme: „In diesem Stück werden alle gesellschaftlich patriarchal gestützten Vorurteile über den sexuellen Mißbrauch auf gefährliche Weise transportiert. Wir finden die Menge der Fehlinformation, die völlige Entmutigung und Frauenverachtung, und die Hoffnungslosigkeit, die dieses Stück hinterläßt, verheerend. Es unterstützt weder die betroffenen Mädchen und Frauen, noch uns in unserer Arbeit.“ Claudia Haas

Der sexuelle Mißbrauch von Kindern muß öffentlich gemacht werden, ihn auf eine städtische Bühne zu bringen, kann ein Beitrag dazu sein. „Kalte Hände“ zeigt, wie groß die Gefahr ist, dabei in Klischees, Plattheiten und Voyeurismus zu verfallen. Claudia Haas

Thomas Baum: Kalte Hände. Regie: Max K. Hoffmann, Bühne: Uta Fink. Mit Karin Kraft, Bernd Braun, Isabel Zeumer, Städt. Bühnen Bielefeld, weitere Aufführungen am 13. und 20. Oktober.