Strategie oder Eigendynamik?

Die Diskussion über eine „dritte Kraft“, die gewalttätige Auseinandersetzungen unter Schwarzen schürt, nimmt in Südafrika kein Ende/ Der ANC sieht Anzeichen, daß es sich nicht um Ausfälle im Sicherheitsapparat handelt, sondern um eine Doppelstrategie Pretorias: Verhandlung und Destabilisierung  ■ Aus Johannesburg Hans Brandt

„Es waren weiße Polizisten. Sie hatten Masken übergezogen. In der Nacht fingen sie an zu schießen und Handgranaten zu werfen.“ Der junge Mann in Phola Park, einer Slumsiedlung östlich von Johannesburg, zeigt auf ein Dutzend zerstörte Hütten. „Am Abend, so gegen halb acht, kam die Polizei und hat alle auf der Straße mit Tränengas vertrieben“, erzählt ein Jugendlicher in Kathlehong, östlich von Johannesburg. „Und direkt nach ihnen kamen Inkatha-Leute, haben unsere Häuser geplündert und die Leute umgebracht.“

Solche und ähnliche Aussagen gab es zu Dutzenden nach den jüngsten Kämpfen in schwarzen Wohngebieten rund um Johannesburg. In den blutigsten Wochen südafrikanischer Geschichte sind zwischen Ende Juli und Mitte September etwa 800 Menschen getötet worden. Auf der einen Seite kämpften meist Anhänger der konservativen Zulu-Organisation Inkatha, häufig Bewohner von Heimen für alleinstehende Wanderarbeiter, die es in fast allen schwarzen Vororten gibt. Auf der anderen Seite standen die Einwohner der umliegenden Ghettos, allen voran meist jugendliche Unterstützer des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC).

Daß die Polizei bei diesen Auseinandersetzungen oft zugunsten von Inkatha eingegriffen hat, belegen Zeugenaussagen von Ghettobewohnern und Journalisten gleichermaßen. Die Sympathie konservativer Weißer für Inkatha ist nichts Neues, ebenso die Gewohnheit der Polizei, politisch gezielt gegen ANC-Anhänger vorzugehen. Was an den Kämpfen der letzten Zeit jedoch am meisten schockierte, war deren wahllose, besinnungslose Brutalität. Da wurde weder gefragt, ob ein Opfer ANC-Sympathisant ist, noch interessierte die Stammeszugehörigkeit. Wahllos wurde vergewaltigt, geplündert, geraubt und gemordet. Die Gewalt gipfelte in einem Angriff auf Passagiere eines Johannesburger Pendelzugs, bei dem am 13. September 26 Menschen von einer schweigenden, grausamen Bande mit Macheten zu Tode gehackt, mit Schußwaffen aus nächster Nähe niedergemetzelt wurden.

„Hier ist eine versteckte Hand im Spiel“, sagte ANC-Vizepräsident Nelson Mandela nach diesem Massaker. „Wir erleben die Anfänge einer Renamo-Bewegung, deren Interesse es ist, die Infrastruktur des Landes zu zerstören, zu morden und zu verstümmeln.“ Sogar Präsident de Klerk, der bisher von einem politischen Konflikt zwischen rivalisierenden schwarzen Gruppen sprach, räumt mittlerweile ein, eine „dritte Kraft“ versuche, den Verhandlungsprozeß über die Zukunft Südafrikas gewaltsam zu stören.

Für den ANC lassen sich Vertreter dieser mysteriösen Drahtzieher und Provokateure in den Reihen der Sicherheitskräfte finden — und die Regierung lasse sie gewähren, um „ein Klima der Unsicherheit, Angst und des Terrors zu schaffen, damit eine entscheidende Mehrheit der Bevölkerung für ein autoritäres Regime zu gewinnen“, so Mitte September die ANC-Exekutive. Nelson Mandela nannte vor seinem jüngsten Treffen mit de Klerk am Montag zum ersten Mal auch Namen dieser „dritten Kraft“: der Geheimdienst NIS, der militärische Geheimdienst und das „Zivile Kooperationsbüro“ CCB, das aus Geheimabteilungen in Polizei und Militär besteht. Zwar weist de Klerk diese Vorwürfe zurück, doch schließt er die Möglichkeit, daß einzelne Soldaten oder Polizisten Gewalt schüren, nicht aus. Viele Indizien weisen auf den Einfluß von Polizei und Militär hin. Neben den Aussagen von Zeugen, die Angriffe beobachtet haben, sprechen vor allem die Methoden, die hier angewandt werden, dafür.

Unter de Klerks Vorgänger Pieter Botha formulierten die Sicherheitskräfte ihre Ideologie des „totalen Angriffs“ kommunistisch gesteuerter, internationaler Kräfte gegen Südafrika. Sie entwickelten eine eigene „totale Strategie“ zur Verteidigung. Bis Ende der achtziger Jahre hatte das Militär soviel Einfluß, daß die gesamte Regierungspolitik Sicherheitsüberlegungen untergeordnet wurde. Zum Arsenal der „totalen Strategie“ gehörte neben Sicherheitsgesetzen und Ausnahmezustand ein landesweites, geheimes Netz von Überwachungskomitees, außerdem der gezielte Einsatz rechter Schlägertrupps und offiziell sanktionierter Todesschwadronen sowie die massive Destabilisierung schwarzafrikanischer Nachbarländer.

Bei den jüngsten Kämpfen wurden Inkatha-Banden gezielt als Schlägertrupps eingesetzt, nach Aussage zahlreicher Zeugen von der Polizei bewaffnet und in Konfliktgebiete transportiert. Recherchen der Johannesburger Wochenzeitung 'Weekly Mail‘ zufolge sind mindestens 200 Inkatha-Mitglieder 1986 von südafrikanischen Offizieren militärisch ausgebildet worden. Dazu wurde ein geheimes Ausbildungslager im entlegenen Caprivi-Streifen im Norden Namibias benutzt. Sowohl Militär als auch Inkatha bestreiten die Vorwürfe, doch werden sie durch Aussagen von Inkatha-Mitgliedern, die dort ausgebildet wurden, belegt.

Die Taktik der Guerilla und der Umgang mit Sprengstoff und automatischen Waffen wurden den Inkatha-Leuten von Mitgliedern einer Sondereinheit des Militärs beigebracht, die auch eng mit den rechten Unita-Rebellen in Angola und den Renamo-Rebellen in Mosambik zusammenarbeitet. Die Renamo-Rebellen haben durch brutale Angriffe und die gezielte Zerstörung der Infrastruktur in Mosambik seit der Unabhängigkeit des Landes 1975 Hunderttausende ermordet und Millionen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht.

Die Ereignisse der letzten Wochen machen deutlich, daß die Sicherheitskräfte ihre altvertrauten Strategien nach wie vor anwenden. „Alle Bestandteile der totalen Strategie werden nach wie vor praktiziert“, heißt es in einem Dokument der südafrikanischen Menschenrechtskommission — „ob von oben gesteuert oder einfach als Folge einer Eigendynamik in unteren Rängen.“ Letztere Interpretation scheint Mandelas Aussage zu unterstützen. „Die Regierung hat ein Monstrum geschaffen, das sie nicht mehr kontrollieren kann“, meinte er vor kurzem in einem Interview.

Die Spannungen zwischen de Klerk, der keine Verbindungen zum Sicherheitsapparat hat, und den Generälen, die unter Botha tonangebend waren, sind so groß, daß immer wieder über der Möglichkeit eines Putsches spekuliert wird. Die schlichte Destabilisierung des Verhandlungsprozesses zwischen ANC und Regierung könnte den Sicherheitsbossen als Anlaß dienen, auf „Recht und Ordnung“ zu pochen. Aber hierfür würde eine Politik der Destabiliserung durch das Anfachen von Kämpfen zwischen rivalisierenden politischen Gruppen ausreichen. Wahlloses Morden, wie in dem Johannesburger Vorstadtzug, hat jedoch eine andere Qualität: Es weist eher auf Extremisten hin, deren Interesse über die Stärkung des Einflusses von Polizei und Militär hinausgeht. Verschiedene Gruppen weißer Extremisten haben in letzter Zeit entsprechende Warnungen ausgesprochen: sie seien zu allem bereit, um „ihr“ weißes Südafrika vor einer schwarzen Regierung zu „retten“.

ANC-Mitglieder glauben allerdings in letzter Zeit hinter den jüngsten Kämpfen eine gezielte Regierungspolitik zu erkennen. „Die Regierung hat eine doppelgleisige Politik betrieben, die einerseits die Notwendigkeit einer Verhandlungslösung akzeptiert, aber andererseits Strategien entwickelt, um den ANC und andere demokratische Gruppen zu schwächen“, erklärten Mitglieder der ANC-Exekutive. Wenn diese Interpretation stimmt, dann sind Appelle an die Regierung, den Sicherheitsapparat von aufrührerischen Elementen zu säubern, sinnlos. Ob in Ermangelung von politischem Willen oder als Teil einer gezielten Politik — de Klerk hat bisher jedenfalls nichts getan, um Provokateuren im Sicherheitsapparat das Handwerk zu legen.