Gesundheit verkommt zum Plastikwort

■ Chronobiologen nehmen zeitliche Rhythmen und Zwänge aufs Korn/Ist die 24-Stunden-Gesellschaft weltweit in Sicht?

Mit dem Biorhythmus hat sie nichts zu tun, die Wissenschaft der Chronobiologie. Obwohl sie die biologischen Rhythmen von Pflanze, Tier und Mensch untersuchen, haben die Experten dieser Fachrichtung bewußt auf die Bezeichnung Biorhythmik verzichtet, um nicht in den Dunstkreis jener pseudowissenschaftlichen Theorie zu geraten, die den Menschen in drei starre Zyklen zu pressen versucht. Ab dem Tage seiner Geburt sollen demnach körperliche, emotionale und geistige Fähigkeiten eines Menschen einem festen Schwankungsmuster unterworfen sein, unabhängig von Gesundheit und Krankheit, Zeitzonenwechsel, Tag- oder Nachtarbeit.

Dagegen hat die moderne Zeitstrukturforschung beweisen können, daß alle Lebensvorgänge zeitlich so organisiert sind, daß sie in Korrespondenz zu den Zeitordnungen der Umwelt stehen und eine sinnvolle Einpassung der Lebensprozesse und des Verhaltens in die wechselnden Umweltbedingungen gewährleisten. Dabei sind diese Beziehungen und Abhängigkeiten unterschiedlich streng. Während bei den Pflanzen der Jahresgang beherrschend ist, sind für die höheren Tiere und den Menschen überwiegend die tagesrhythmischen oder circadianen Schwankungen der Lebensvorgänge bedeutsam. Im Gegensatz zu Pflanze und Tier charakterisiert den Menschen, daß sein Verhalten nicht zwingend von den rhythmischen Schwankungen seiner Körperfunktionen bestimmt wird, daß er im Laufe seines zivilisatorischen Werdeganges immer mehr Freiheitsgrade entwickelt hat. Diese scheinbare Unabhängigkeit des Menschen dürfte auch die Ursache sein, warum die Schulmedizin die Chronobiologen häufig etwas als Sonderlinge belächelt, bestenfalls gut dazu, Therapieschemata für das tageszeitliche Wirkungsoptimum von Medikamenten zu liefern.

Selten wird der Chronobiologie auf einem medizinischen Kongreß soviel Platz eingeräumt, wie im September in Hannover auf der Tagung „Gesundheit in eigner Verantwortung“, auf der sich Mediziner, Therapeuten, Psychologen und Pädagogen Gedanken machten über den Umgang unserer Gesellschaft mit ihren Zeitstrukturen. Welche Wahrnehmungsebenen läßt sie zu, welche tut sie ab, etwa mit der Bemerkung „Träume sind Schäume“. Wie gehen ihre Mitglieder mit den Spannungen um, die sich für den Einzelnen aus der mehr oder weniger geglückten Anpassung seiner eigenen Rhythmen an diese Zeitstrukturen ergeben, Spannungen, die sich in Krankheit und Schmerz äußern können. Folgerichtig beschäftigte sich der Kongreß mit Chronobiologie, Schlaf und Traum sowie Schmerzverarbeitung. Dabei wurde gerade am Beispiel der Rhythmusforschung deutlich, zu welch unterschiedlichen Schlußfolgerungen praktisch identische Erkenntnisse führen können.

Klar ist die gemeinsame Grundlage, daß nicht nur offenes Verhalten, wie Aktivität, Schlafen und Essen in einem circadianen Rhythmus — etwa von vierundzwanzig Stunden — schwanken, sondern auch innere Funktionen, wie Körpertemperatur, Verdauung, Nierenfunktion und der Spiegel der Hormone im Blut. Durch entsprechende Experimente ist auch belegt, daß diese Rhythmik nicht die passive Antwort auf externe Zeitgeber ist, wie etwa Sonnenauf- und -untergang. Die inneren Uhren im Gehirn arbeiten auch dann, wenn der Mensch in einem Bunker keinerlei Kenntnis von der Tageszeit hat. Dennoch ermöglicht gerade die nur ungefähre Tagesperiodik der endogenen Rhythmen die Anpassung an die Zeit der Umwelt. Äußere Zeitgeber spielen eine wichtige Rolle bei der Synchronisation oder Desynchronisation der Rhythmen der einzelnen Funktionen untereinander.

So hat Gunther Hildebrandt vom Institut für Arbeitsphysiologie und Rehabilitationsforschung Marburg herausgefunden, daß die Frequenz- und Phasen-Ordnung rhythmischer Körperfunktionen in der Nacht während des Schlafs am größten ist. Mit dem Erwachen wird diese Ordnung, die für die nächtliche Regeneration entscheidend wichtig ist, sofort wieder abgeschwächt oder gar aufgehoben. So sind offensichtlich die Freiheiten menschlichen Verhaltens und eine absolute rhythmische Ordnung Gegenspieler. Wie weit der Mensch im Rahmen seines freien Verhaltens Rhythmusstörungen in Kauf nehmen kann und muß, wie weit ein gewisses Maß an Störungen sogar erforderlich ist, um den Organismus zu inneren Ordnungsleistungen anzuregen, ist für Hildebrandt ebenso Frage einer zukünftigen „Chronohygiene“, wie die Ermittlung jenes Maßes an Schlaferholung der zeitlichen Ordnung menschlicher Lebensprozesse unerläßlich ist.

Im Gegensatz dazu betrachtet der Chronobiologe Martin Moore-Ede von der Harward Medical School in Boston offensichtlich den heutigen Menschen als eine Art steinzeitlichen Anachronismus. Die Verhaftung in Rhythmen einer längst verflossenen Lebensweise, jagen bei Tag, Schutz suchen in Höhlen und schlafen bei Nacht, erweist sich seiner Auffassung nach als Hemmschuh für die ungestörte Entwicklung der Menschheit zur weltweiten Vierundzwanzig-Stunden-Gesellschaft. Sein Erkenntnisziel ist es, wie man den Menschen ohne Ausfälle rund um die Uhr verfügbarmachen kann. „Helles“ Licht, wenigstens tausend Lux im Gegensatz zu den üblichen höchstens fünfhundert Lux eines gut beleuchteteten Innenraums, soll nachts die inneren Uhren verstellen, Erziehungsprogramme zur Lebensführung und Kurzzeit-Schlafphasen sollen den Menschenfür die Bedürfnisse der Technologie konditionieren.

Das Problem der Anpassung Mensch-Umwelt blieb, ausgesprochen oder unausgesprochen, Leitmotiv auch vieler anderer Vorträge. Schmerzphysiologe Manfred Zimmermann von der Universität Heidelberg sprach über die psychosoziale Dynamik des Schmerzes und beklagte, daß die soziale Dimension bei den heute vorherrschenden Konzepten über den Schmerz fehlte. So wie die Umwelt den Menschen krank machen kann, kann auch der Patient mit dem Schmerz bestimmend und gestaltend auf seine soziale Umgebung einwirken. Viele Faktoren dieser sozialen Umgebung, aber auch des Lebensstils und der Art wie der Arzt mit dem Schmerzkranken umgeht, können zur Chronifizierung von Schmerzen beitragen. Heilen, meint Zimmermann, bedeutet in diesem Sinne nicht nur das Beseitigen eines körperlichen Defekts. Subjektives Heil brachte dem Kranken eine optimal angepaßte Umgebung, eine verbesserte Lebensqualität. Die Fülle der Beiträge zum Problem des „coping“, der glückenden Bewältigung von Lebenskrisen, Krankheit und Schmerz, ließ, in Verbindung mit dem Motto „Gesundheit in eigenen Verantwortung“ aber dann doch bei vielen Zuhörern die Hoffnung nach einem Rezept aufkeimen, nach einem Weg, ungeachtet der vielfältigen Bedrohung von außen, am eigenen Wesen genesen zu können.

Solchen Spekulationen entzog Ivan Illich von der Pennsylvenia State University jedoch gegen Ende des Kongresses entschieden den Boden. Er erklärte rundweg Gesundheit und Verantwortung zu Begriffen einer verlorenen Vergangenheit. Die Existenz in nicht verantwortbaren Zusammenhängen mache Verantwortung für die Welt unmöglich. Die Anpassung und Konditionierung an menschenfeindliche genetische, klimatische, chemische, kulturelle Wachstumsfolgen lasse sich nicht als Gesundheit bezeichnen. „Die Verinnerlichung von system- und informationstheoretischen Vorstellungen im Namen von gewichtigen Idealen (Gesundheit und Verantwortung) die technisch und ideologisch nicht in die Medien- und Computerwelt passen, halte ich für eine Perversion“, meinte Illich und forderte den radikalen Verzicht auf diese Ideale, die zu Plastikwörtern verkommen, keine Richtung mehr geben könnten und so nur zu Desorientierung und Kränkung führten. Barbara Fiala