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Hymne auf die Nation

■ Alain Touraine zum Nationalismus: Neue Antworten statt alter Ängste DOKUMENTATION

Warum wird heute so wenig von der Gesellschaft gesprochen und so viel von der Nation, und warum von letzterer in so defensiven Worten, als würde die nationale Identität verlorengehen, unten bedroht von den Arabern und oben von den Deutschen und Amerikanern?

In der Nachkriegszeit, in der Phase der Industrialisierung, war der Gedanke der Nation verknüpft mit dem der Modernisierung und war sogar völlig von dem der Gesellschaft überlagert, denn diese wurde von so tiefgreifenden Konflikten erschüttert, daß die Einheit der Nation aus dem Blickfeld geriet. Heute nährt sich der Gedanke der Nation von der Furcht, eine Identität zu verlieren, die überall von der transnationalen Massenkultur bedroht ist.

Dieses Phänomen ist kein spezifisch französisches. Der amerikanische Nationalismus hat Reagan an die Macht gebracht, Frau Thatcher wurde vom englischen Nationalismus unterstützt, und es ist schwierig, nicht von deutschem Nationalbewußtsein zu sprechen, wenn man die große Einheitsbewegung bezeichnen will, die Westdeutsche und Ostdeutsche zusammengebracht hat.

Ideologie von Zöllnern

Die Besonderheit der französischen Situation besteht darin, daß die Anführer der parlamentarischen Rechten es nicht verstanden haben, diese nationalistische Strömung zu vereinnahmen, um die Linke zu schlagen, wie das in den drei anderen großen westlichen Ländern der Fall war. Doch das läßt sich eher durch eine Fehleinschätzung dieser Anführer erklären als durch die angebliche Stärke eines französischen Nationalismus, denn dieser ist genauso defensiv wie die anderen und ist nicht im geringsten begleitet von militaristischem und noch nicht einmal chauvinistischem Fieber. Denn die Idee der Nation verstärkt sich und lädt sich auf durch Mißtrauen gegenüber der Zukunft.

In den westlichen Ländern hat sich das gesellschaftliche Leben von der Ökonomie — die zur technischen Steuerung komplexer Systeme geworden ist — und von jedem historischen Projekt getrennt; es hat sich aufgespalten in eine individualistische Strömung, die immer kommerzieller wird, und einen defensiven Nationalismus, eine abgeschwächte Form der riesigen Welle von Nationalismus und Fundamentalismus, die gegenwärtig einen großen Teil der Welt überschwemmt. Die Ökonomie ist nicht länger Gegenstand politischer Auseinandersetzungen, jeder ist für die freien Unternehmen, für die neuen Technologien, gegen die Inflation und sogar für eine starke Währung. Die Konflikte und Stimmungen der Jahre 1975 bis 1985 sind nichts als schlechte Erinnerungen. Die Gesellschaft ist leer von sozialen Bewegungen und ideologischen Debatten.

Und diese soziale und politische Leere, die Politiker und Intellektuelle in die Bedeutungslosigkeit treibt, wird nicht durch den Geschmack am Geld aufgefüllt, auch wenn dieser Überhand nimmt; und zwar deshalb nicht, weil dieser Geschmack Nahrung braucht, wenn er erhalten bleiben soll; daher mobilisiert er all diejenigen nicht, die weit ab vom Werbegeschäft und der Börse leben. Nur die imaginäre und völlig defensive Berufung auf eine Nation, die von diesem ökonomischen Durcheinander bedroht ist — von der Internationalisierung der Märkte und Fernsehprogramme — und vor allem von der Sinnlosigkeit, dem Fehlen eines inhaltlichen Wagnisses der französischen Gesellschaft, erzeugt die aufregende Illusion von Gefahr und von Mobilisierung, die der Bevölkerung nahegebracht wird, die nicht nationalistisch ist und nicht einmal an der Notwendigkeit zweifelt, die Landesgrenzen immer mehr zu öffnen.

Die Hymne auf die Nation ist um so angenehmer zu hören, als sie zu keiner Anstrengung aufruft, und vor allem nicht zu den Opfern, die in der Marseillaise verherrlicht wurden. Es ist der Nationalismus eines ruhigen Familienvaters und gehört zu einer Sicherheitsideologie, die alles überwuchert; es ist eher eine Zurückweisung des anderen als eine Erhöhung seiner selbst, eher eine Ideologie von Zöllnern und Gendarmen als von Soldaten und Kolonialisten. Dieser Nationalismus ist in Wirklichkeit gegenstandslos: Keine feindliche Invasion bedroht uns, die ökonomische Krise, zu deren Verlängerung wir nicht wenig beitrugen, hatte sich schließlich von uns zurückgezogen, bevor die Krise am Golf ausbrach, und das sowjetische Reich liegt in Trümmern. Sogar Deutschland läßt eher ein Nationalbewußtsein zum Vorschein kommen als einen besorgniserregenden Nationalismus. Und schließlich geht die Zahl der ausländischen Arbeiter in der arbeitenden Bevölkerung zurück und ihre Kinder lernen französisch.

Äußere Feinde — innere Entscheidungen

Warum sollte man den perversen Nationalismus der „Front national“ völlig im Gegensatz sehen zu den tugendhaften Nationalisten der parlamentarischen Rechten und Linken? Wäre es nicht angemessener, diese Nationalismen insgesamt — die alle geschwätzig und ohne konkrete Projekte sind — im Gegensatz zur Realität sozialer Probleme zu sehen? Inzwischen gehört es ja zum guten Ton, nicht mehr von sozialen Problemen zu sprechen, als gäbe es keine Armut, keine Arbeitslosigkeit, keine Einsamkeit, keine ungerechtfertigten Entlassungen, keine Probleme mit der Schule mehr? Ist die Verteidigung der angeblich bedrohten Nation nicht das Gegenstück zur Unfähigkeit, sich Gedanken über die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse zu machen, was die Konflikte wie die Verhandlungen betrifft?

Wenn die Nation definitionsgemäß eine ist, so ist die Gesellschaft nichts als die Gesamtheit der Beziehungen zwischen sozialen Akteuren mit entgegengesetzten Interessen und Vorstellungen. Das Aufkommen des Nationalismus ist nur das Gegenstück zur Erschöpfung der wirklich sozialen Auseinandersetzungen und Konflikte. Die Linke bewahrt ihre sozialen Ziele leichter, denn sie verteidigt die Interessen der Mehrheit — die Erhaltung der sozialen Sicherheit, der Kampf gegen die Verteuerung des Lebens, die Einschränkung der Willkür —, während die Rechte sich auf immer minoritärer werdende soziale Schichten stützt; sie ist daher empfänglicher für nationalistische und bonapartistische Tendenzen, die sich heute eher gegen die schwachen ausländischen Arbeiter als gegen die starken Deutschen richten. Aber die Wählerschaft und sogar die linken Intellektuellen werden von der nationalistischen Welle erfaßt, aus Mangel an sozialen Anliegen und politischen Zielen, für die man sich einsetzen kann. Dazu kommt noch die anmaßende Vorstellung, daß der französische Nationalismus sich von allen anderen Nationalismen unterscheidet, weil er universelle Werte verteidigt.

Die Feuerbrunst von Le Pens „Front national“ wird sich nicht dadurch eindämmen lassen, daß man nationalistische Gegenfeuer entfacht. Sie läßt sich nur dann aufhalten, wenn man den Franzosen wieder das Bewußtsein gibt, daß sie eine Gesellschaft sind, wenn man sie davon überzeugt, daß sie nicht ohne wirkungsvolle Waffen im unvermeidlichen Kampf um die Wettbewerbsfähigkeit dastehen, und daß es höchste Zeit ist, daß sie außerdem eine Fähigkeit wiederfinden, die sie einst hatten, nämlich die Fähigkeit, einen neuen Gesellschaftstyp zu erfinden und die Ansatzpunkte und Akteure der neuen sozialen Kämpfe zu definieren, auf die die demokratische Auseinandersetzung sich gründen muß.

Der Rechten kommt selbstverständlich die Hauptverantwortung im Kampf gegen die „Front national“ zu. Doch was uns am meisten fehlt, ist eine klare Definition der Gegensätze zwischen der Rechten und der Linken, abgesehen von den Gefechten um Verstaatlichungen und Planung, die alle zugunsten der Rechten ausgegangen sind. Auf den Ruinen der alten Ideologien errichtet der Markt sein Reich, und gegen seine Verführungen und Drohungen bildet sich überall eine defensive populistische und nationalistische Strömung, in Frankreich und in den Vereinigten Staaten, in Rußland und in Polen.

Man muß diesen Zusammenhang aufbrechen und unserer Gesellschaft wieder das Bewußtsein geben, daß sie weniger gegen äußere Feinde zu kämpfen hat, sondern innere Entscheidungen treffen muß. Alain Touraine

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