Das Ende des Pragmatismus?

■ Die blutigen Auseinandersetzungen in Ost-Jerusalem und den besetzten Gebieten KOMMENTARE

Die jüngsten Auseinandersetzungen in Ost-Jerusalem beenden eine Zeit der relativen Ruhe in den israelisch besetzten Gebieten. Seit Beginn des Golfkonflikts deutete manches darauf hin, daß sich die israelischen Besatzungsbehörden eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den Palästinensern in Westbank und Gaza-Streifen auferlegt haben. Wie bei früheren Auseinandersetzungen ist es auch diesmal müßig zu fragen, wer die Schuld an der gewalttätigen Eskalation trage, wer „angefangen“ habe und wer gerechterweise einen „Vergeltungsschlag“ führe. In diesem Falle: ob es tatsächlich nur „Gerüchte“ über eine bevorstehende Besetzung des „Haram“, des heiligen moslemischen Bezirks in der Mitte der Ostjerusalemer Altstadt waren, die den willkommenen Vorwand für einen Steinhagel von Palästinensern auf die betenden Juden an der Klagemauer boten, oder ob die Gruppe „Gläubige des Tempelbergs“ sich wirklich gewaltsam Zugang zum „Haram“ zu verschaffen suchte — unter billigender Inkaufnahme einer entsprechend militanten Reaktion von Palästinensern. Die Auseinandersetzungen verweisen so oder so einmal mehr auf die Unhaltbarkeit des Zustands, den Israel 1967 durch die Besetzung von Westbank und Gaza-Streifen und durch die anschließende Annektion von Ost-Jerusalem geschaffen hat.

Der Anlaß der Auseinandersetzungen zieht die Aufmerksamkeit auf eine bislang in den verschiedenen Szenarien einer friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes — und das kann nur heißen, einer Zweistaatenlösung — ungeklärten Frage: Welchen Status soll „Jerusalem“ in diesem Falle erhalten? Auch für sogenannte „gemäßigte“ Palästinenser steht ganz und gar außer Frage, daß Ost-Jerusalem die Hauptstadt eines palästinensischen Teilstaates zu sein hätte. Das durch die Annektion „wiedervereinigte“ Jerusalem wurde aber mittlerweile zur israelischen Hauptstadt gemacht. Da sich die heiligen Stätten von Juden, Christen und Moslems in der Altstadt von Ost- Jerusalem befinden, wird keine Seite ohne weiteres auf ihren Anspruch verzichten können. Die Frage ist, wie schon so oft in der Geschichte Jerusalems, von „Al Quds“, des „Heiligtums“, wie die Stadt arabisch heißt: Wer kontrolliert die heiligen Stätten? Die derzeitige Aktualisierung dieser Frage ist gewiß auch eine Folge der Überdeterminierung des palästinensisch-israelischen Konflikts durch die Golfkrise: Die Analogie zur arabischen, religiösen Rezeption des amerikanisch-westlichen Aufmarsches in Saudi-Arabien ist nicht zu übersehen. — Die jüngsten Unruhen in Ost-Jerusalem, die sich sofort auf die übrigen besetzten Gebiete ausgedehnt haben, könnten den Beginn einer neuen Phase in den israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen markieren. Jahrzehntelange Frustration des palästinenischen Anspruchs auf einen eigenen Staat durch die israelische Politik in den besetzten Gebieten und durch die wiederholte internationale Diskreditierung der diplomatischen Bemühungen der PLO haben unter den Palästinensern im Exil wie in den besetzten Gebieten eine Verzweiflung entstehen lassen, die alle pragmatischen politischen Diskussionen der letzten Jahre allmählich blockiert. Die intelligente und erfindungsreiche Kampagne des „zivilen Ungehorsams“ während dreier Jahre Intifada ist in Gefahr, an dem immer lauter ertönenden, regressiven Ruf der Palästinenser nach dem starken Mann in Bagdad zu ersticken, „der es ihnen endlich zeigen soll“. Dieser Ruf ertönt bereits seit Wochen — doch vorgestern könnte unter diesen neuen politischen Vorzeichen eine Runde brutalerer und verzweifelterer Auseinandersetzungen begonnen haben, in der es keine pazifizierenden Kräfte auf der Seite der Besetzten mehr gibt.

Von israelischer Seite wurde den Palästinensern aus diesem jüngsten Anlaß eine „gezielte Provokation“ vorgeworfen, um angesichts der internationalen diplomatischen Bemühungen zur Lösung der Golfkrise im Rahmen einer eventuellen internationalen Konferenz über alle Nah-Mittel-Ost-Probleme auf sich aufmerksam zu machen. Man könnte den Vorhalt auch an die israelische Adresse richten: Solange das Junktim zwischen irakisch-kuwaitischem und israelisch-palästinensischem Konflikt nur als verrückte Idee von Saddam Hussein und der PLO galt, war es angezeigt, in den besetzten Gebieten Zurückhaltung zu üben. Nachdem das Junktim, wenn auch noch längst nicht konsensfähig, immerhin vorsichtiges internationales Interesse geweckt hat, muß einmal mehr der Beweis erbracht werden, daß man mit diesen palästinensischen Desperados nicht verhandeln kann. Der erneuten Verhaftung des Palästinensers Feisal Husseini, eines einflußreichen, pragmatischen Politikers in Ost-Jerusalem, und dem soeben vorgetragenen Vorschlag einiger Likud-Abgeordneter, ihn zu deportieren, kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu: Man könnte diese Maßnahme als Teil einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ bezeichnen. Nina Corsten