Zweiklassentarife in West-Berlin?

Bewohner der ehemaligen DDR im Westberliner öffentlichen Dienst sollen nach den schlechteren östlichen Tarifen bezahlt werden/ Stuttgarter ÖTV-Zentrale handelte Vereinbarung aus  ■ Von Martin Kempe

Berlin (taz) — Die ÖTV-Betriebsgruppe am Wissenschaftszentrum Berlin traute ihren Augen nicht. In einem Rundschreiben hatte der Berliner Senat am 19. September allen Dienststellen den Tarifvertrag zur Kenntnis gebracht, der die Bezahlung für Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes in der DDR und Ost-Berlin nach dem 3. OKtober regelt. Inhalt dieser Tarifvereinbarung ist, daß die bisher nur für die ehemalige Bundesrepublik geltenden Tarifvereinbarungen im öffentlichen Dienst auf dem Gebeit der ehemaligen DDR keine Anwendung finden sollen.

Nicht diese angesichts des unterschiedlichen Entwicklungsstands in Deutschland durchaus vernünftige und verständliche Vereinbarung erregte den Zorn der Berliner Gewerkschafter, sondern eine zusätzliche Vereinbarung, die nur für das vereinigte Berlin gelten soll: Beschäftigte, die zwar in der ehemaligen DDR oder Ost-Berlin wohnen, aber inzwischen im Westberliner öffentlichen Dienst eine Arbeit gefunden haben, sollen ebenfalls nach östlichem Tarifrecht entlohnt werden. Dies bedeutet für viele Betroffene eine Lohnsenkung um rund 50 Prozent.

Allein am Wissenschaftszentrum haben nach der Maueröffnung rund zehn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der ehemaligen DDR ihre Arbeit aufgenommen. „Sie bringen in ihre Forschungsarbeit ihre speziellen Kenntnisse und Fertigkeiten ein“, heißt es in einem Protestbrief der Betriebsgruppe an den Hauptvorstand der Gewerkschaft ÖTV in Stuttgart. Sie wurden bisher selbstverständlich genauso bezahlt wie ihre Kollegen und Kolleginnen aus dem bisherigen Bundesgebiet beziehungsweise aus dem Ausland. Sollte die vom ÖTV- Hauptvorstand mit den öffentlichen Arbeitgebern am 1. August ausgehandelte Vereinbarung tatsächlich in Kraft treten, würden sie ab sofort 50 bis 60 Prozent weniger verdienen als diejenigen, mit denen sie unmittelbar zusammenarbeiten.

Die Berliner Bezirksverwaltung der ÖTV hat inzwischen ebenfalls beim Hauptvorstand der Gewerkschaft gegen ein derartiges „Lex Berlin“ protestiert. Erstens müßte die Regelung dann auch für alle innerdeutschen Grenzgebiete zur DDR gelten. Zweites aber wird dadurch ein tarifpolitisches Prinzip gebrochen: Entscheidend für die Geltungsbereiche von Tarifverträgen ist der Arbeitsplatz der Beschäftigten und nicht der Wohnort.

Die Berliner ÖTV fordert, die nur für Berlin geltende Bestimmung ersatzlos zu streichen. Sollte dies nicht geschehen, komme das einer Einladung an den öffentlichen Arbeitgeber gleich, nur noch DDR-Bewohner zum Billigtarif einzustellen. Die WZB-Betriebsgruppe konstatiert eine „ungeheuerliche Verletzung gewerkschaftlicher Prinzipien“. Die Arbeitgeber dagegen argumentieren, auf diese Weise würden die Chancen von Bürgern der Ex-DDR, einen Arbeitsplatz in West-Berlin zu finden, erhöht.

Der Stuttgarter ÖTV-Zentrale, die die Tarifvereinbarung ursprünglich ausgehandelt hat, ist die Brisanz dieser Bestimmung inzwischen offensichtlich aufgegangen. Unbeschadet ihres bisherigen Einverständnisses erklärte sie nun der taz, die Tarifvereinbarung werde „so nicht unterschrieben“ und deshalb nicht in Kraft treten.

Erste Gespräche, den gewerkschaftlichen Fehlgriff „auszubügeln“, sollen inzwischen auf bezirklicher Ebene stattgefunden haben.