Nach dem Massaker von Jerusalem
: Im Schatten des Heiligen Berges

■ Ausgerechnet am Tempelberg, dem neuralgischen Punkt der Jerusalemer Altstadt und Heiligtum der drei Weltreligionen, eskalierte der israelisch-palästinensische Konflikt zum Blutbad.

Die Wortführer der palästinensischen Widerstandsorganisationen in den von Israel besetzten Gebieten haben die Vereinten Nationen aufgefordert, UNO-Sicherheitskräfte nach Israel zu entsenden, die „den Frieden aufrechterhalten und unser Volk schützen sollen“. Die Erklärung wurde am Tag nach den Zusammenstößen auf dem Jerusalemer Tempelberg — den schwersten zwischen Palästinensern und Israelis seit der Besetzung Ost-Jerusalems, der Westbank und des Gaza-Streifens 1967 — veröffentlicht. Gleichzeitig wird auch die sofortige Freilassung der etwa 150 seit Montag inhaftierten Palästinenser gefordert, darunter Feissal Husseini, einer der bekanntesten Palästinenserführer in Israel.

Eine weitere Botschaft der „Palästinensischen Persönlichkeiten und Organisationen“, die im allgemeinen die Bevölkerung nach außen vertreten, wendet sich an die „westlichen und islamischen Staaten“. Darin heißt es, diese sollten sich dafür einsetzen, „das Morden zu beenden und unser Volk sowie unsere heiligen Stätten zu schützen“.

An die Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen in New York erging noch am Abend des Blutbades der Aufruf zur sofortigen Intervention der UNO. „Schützt uns vor den israelischen Soldaten und den fanatischen Siedlern“, hieß es. „Wir verstehen nicht, wie der Sicherheitsrat immer wieder unsere Hilferufe ignoriert, während derselbe Sicherheitsrat gewillt ist, Truppen an den Golf zu schicken, um dort Krieg zu führen.“ Weiter erklärten die Palästinenser: „Israel fängt nun unter dem Eindruck der Krise am Golf an, den Plan zur Übernahme der heiligen islamischen Stätten zu realisieren. Die palästinensische Bevölkerung soll nicht nur physisch bedrängt werden, sondern auch ihr religiöses Fundament soll zerschlagen werden.“

Auch in Israel hat das Massaker vom Tempelberg innenpolitische Wellen geschlagen. Der Bürgermeister von Jerusalem, Teddy Kollek, der für eine moderate Haltung gegenüber den Palästinensern bekannt ist, warf Regierungschef Jizchak Schamir und radikalen jüdisch-religiösen Kräften vor, für die folgenschweren Ereignisse verantwortlich zu sein. Kollek klagte außerdem die jüdische Gruppierung „Gläubige des Tempelbergs“ an, mit provokatorischen Aktionen Reaktionen herausgefordert zu haben, die schließlich in das Blutbad mündeten. Er ermahnte die Regierung, mit mehr Fingerspitzengefühl die Balance zwischen den Religionsgruppen zu wahren.

Premier Schamir wies die Vorwürfe als absurd zurück. Er beschuldigte seinerseits „palästinensische Elemente“, für die blutigen Ereignisse vom Montag die Verantwortung zu tragen. Die israelischen Behörden, so der Premier, verfügten über Informationen, die bewiesen, daß die Zusammenstöße „von diesen Kräften vorsätzlich provoziert“ worden seien.

Der stellvertretende Außenminister Benjamin Netanjahu sieht die Ereignisse von Jerusalem als „Teil einer internatonalen Verschwörung, um die Aufmerksamkeit der Welt von Saddam Hussein abzulenken“. Er erklärte: „Was in Jerusalem geschehen ist, war die Folge islamischer Hetze und ein Aufruf, die Juden an der Klagemauer anzugreifen. Und nun beschuldigt die Weltöffentlichkeit die Opfer. Die Anti-Saddam-Hussein-Koalition, an der sich auch arabische Staaten beteiligen, handelt doch gegen ihre eigenen Interessen und die Israels, wenn sie der neuerlichen PLO-Verschwörung Hilfe gewährt.“

Auch in den iraelische Zeitungen spiegelten sich am Tag danach die gegensätzlichen Beurteilungen und Schuldzuweisungen wieder. Das Massenblatt 'Yedioth Aharanoth‘ schrieb: „Die Ereignisse am Tempelberg haben emotionsgeladenen Sprengstoff in die internationale Arena geworfen, der Israel großen Schaden zufügen wird.“ Gleichzeitig nimmt das Blatt die moslemischen Behörden in Jerusalem in Schutz. Sie seien für das Geschehene nicht verantwortlich zu machen. Ihr Mangel an Autorität sei jedoch von einem Mob ausgenutzt worden, der die heiligen Stätten entweiht habe.

Die angesehene Tageszeitung 'Ha'aretz‘ forderte bei aller Verurteilung der Palästinenser als Urheber eine Untersuchung darüber, wie die israelische Polizei „das schreckliche Blutbad anrichten konnte, das den Aufruhr in der arabischen Bevölkerung anheizen wird“.

Die palästinenischen Tageszeitungen in Ost-Jerusalem erschienen am Dienstag alle mit großen schwarzen Trauersymbolen für die Opfer des Blutbades am Tempelberg. Die Zeitung 'An Nahar‘ titelte: „21 Palästinenser vor Al-Aksa hingemordet“. „Das Gemetzel von gestern zeigt erneut, daß das Leben von Lämmern wertvoller ist als das von Palästinensern. Auch die Zeitung 'Al Fadschr‘ sprach von einem „Gemetzel bei der Al-Aksa-Moschee“. Die Zeitung 'Al Quds‘ brachte über die ganze Titelseite Todesanzeigen der Opfer. „In der UNO wird viel über internationale Gesetze und Konventionen geredet. Wir fragen nach dem internationalen Rechtsstatus für ein Volk, das seit über acht Jahrzehnten leidet. Was wird jetzt als nächstes kommen?“ Amos Wollin, Tel Aviv