Bonn für die Welt — Berlin für die Deutschen

■ Ein Gastbeitrag des Berliner Korrespondenten der US-Wirtschaftszeitung 'Wallstreet Journal‘, Friedrich Kempe/ Der Journalist schlägt vor, das verschlafene Bonn zur symbolischen Hauptstadt zu machen und das Parlament und die Regierung zum Wohle der Parlamentarier nach Berlin zu verlegen

Als ich am Tag der Einheit die Kämpfe zwischen den sogenannten Chaoten und der westdeutschen Polizei am Alexanderplatz beobachtete, traf mich auf einmal die Lösung für das Hauptstadtproblem wie der Blitz.

Die Idee kam mir, glaube ich, als ich vier Einsatzpolizisten sah, die — mit Plastikschutzschilden und Helmen ausgerüstet — durch das Schaufenster eines neuen Miele- Waschmaschinengeschäftes nach Anarchisten Ausschau hielten. Warum sich die Anarchisten dorthin zurückgezogen hatten, weiß ich nicht, aber es war ein wirkliches Erlebnis, die uniformierten Polizisten hinter »lederbejackten« Radikalen herjagen zu sehen — zwischen den neuesten Modellen mit 1.100 Umdrehungen. Als einer der Polizisten seinen Knüppel erhob und zuschlug, dachte ich: Ist es nicht falsch, daß Bonn solche Konflikte so gut wie nie direkt erlebt? Ich meine, so wird zum Teil die Zukunft in Deutschland aussehen: Menschen, die einfach nicht der Tatsache ins Auge sehen können, daß ihre wirtschaftlich mächtige, unentschuldbar kapitalistische und langweilig-reife Demokratie nun noch mächtiger und kapitalistischer wird. Versuchen Sie doch mal, eine anständige Menge an Leuten für eine Demo unter dem Motto »Halt's Maul, Deutschland« kurzfristig in Bonn zu mobilisieren. Aber ist es nicht gerade das, was eine »Hauptstadt« ausmacht?

Ich habe nämlich zwei Jahre in Bonn gewohnt. Und die einzige soziale Bedrohung, derer ich in Bonn teilhaftig wurde, war die gelegentliche Überflutung des Rheins. Man sagt, daß Bonn halb so groß sei wie der Chicagoer Friedhof und zweimal so tot. Dem muß ich widersprechen. Ich war auf dem Chicagoer Friedhof, und er ist nicht annähernd so langweilig.

Diese einleitenden Bemerkungen bringen mich auf eine relativ perverse Idee. Sie stellt gleichzeitig auch die perfekte Lösung der Hauptstadtfrage dar. Wie es meistens so mit den Ideallösungen ist, hat sie keinerlei Aussichten auf Erfolg. Aber hier ist sie: Ich meine, daß Bonn die symbolische Hauptstadt sein sollte und Berlin der Sitz der Regierung. Meine Gründe:

1.Bonn sollte symbolische Hauptstadt bleiben, weil es all das verkörpert, was Deutschlands Nachbarn in Deutschland sehen möchten: Bonn ist bescheiden, ruhig, unbedrohlich, eben »gemütlich«. Ausländische Gäste können friedvoll ihre Besuche abhalten, amerikanische Präsidenten und andere internationale Führungsspitzen können sich überall und zu jeder Zeit zeigen, ohne dabei Sicherheitsalpträume auszustehen. Bonn wird den europäischen Freunden zeigen, daß Deutschland die Europäische Gemeinschaft sehr ernst nimmt. Die Deutschen könnten ihren Nachbarn dann sagen: Wozu braucht man Berlin, wenn man Brüssel hat? Vielleicht könnten sie sogar einen Handel schließen: Deutschland behält Bonn als Hauptstadt bei, wenn die EG Frankfurt zur Heimat der Europäischen Zentralbank macht. Die Deutschen werden sowieso die Geldpolitik der EG bestimmen. Bonn würde auch beweisen, daß die Deutschen nicht wieder von sich selber besessen sind, daß sie nicht mehr nach der Art von Macht gieren, wie sie solch eine hoheitsvolle Stadt vermuten läßt. Es würde auch beweisen, daß die Deutschen den dezentralisierten Föderalismus sehr ernst nehmen. Machen Sie Bonn auch zu Ihrer symbolischen Hauptstadt! Dieser Akt würde zeigen, daß die Deutschen doch einen Sinn für Humor haben — und politische Bescheidenheit.

2.Berlin aber sollte Regierungssitz sein. Da bin ich mir ganz sicher. Deutsche Bundestagsabgeordnete mögen Ordnung so sehr, daß es mich immens befriedigen würde, wenn sie mit der täglichen Unordnung in Berlin konfrontiert würden. Sie würden dann täglich Dingen wie polnischen Kauflustigen, rumänischen Taschendieben, Linksradikalen und Neofaschisten gegenüberstehen. Sie würden auch mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert werden. Hitlers Bunker, der ehemalige Sitz des Gestapo-Hauptquartiers, jüdische Synagogen, die in der »Reichskristallnacht« abgebrannt wurden, und die mannigfaltigen Probleme der Nicht-mehr-DDR. Man sollte jedoch sicherstellen, daß die Abgeordneten nicht wieder denselben Generalpardon genießen wie in Bonn. Sie sollten genauso nach Parkplätzen suchen wie wir anderen auch. Es könnte die Natur deutscher Gesetzgebung verändern, wenn man die Gesetzesmacher näher an die Probleme des Landes bringen könnte.

So, da haben Sie's. Bonn für die Welt und Berlin für die Deutschen. Völlig undurchführbar und völlig logisch.

Oh, ich habe übrigens auch ein privates Anliegen! Ich möchte, daß die Regierung hierherkommt, weil ich meinen Bossen klargemacht habe, daß ich nie wieder nach Bonn zurückziehen werde.

Friedrich Kempe arbeitet seit Mai 1990 als Korrespondent des 'Wallstreet Journal‘ in Berlin.