Ein Plädoyer für Vielfalt und Toleranz

■ »Cabal · Die Brut der Nacht« im Sputnik und am Ku'damm

Barker ist phänomenal. Man liest ihn mit dem Buch in der einen und der Kotztüte in der anderen Hand.« (Stephen King über Clive Barker).

Kotztüten hatten sie vor der Filmvorführung im Zoopalast nicht verteilt. War vielleicht auch nicht nötig. Man kommt zur Zeit sowieso nicht aus dem Kotzen raus, wenn man die Zeitung aufschlägt oder Nachrichten einschaltet. Hin und wieder reicht auch eine einfache U-Bahn-Fahrt. Horrorfilme mit Blutmatsch, Knochensplittern und Gehirnbrei haben da eher eine beruhigende Wirkung.

Clive Barker verfilmt Clive Barker, und David Cronenberg, der Chirurg unter den Horrorfilmregisseuren, spielt einen Psychiater. In Wahrheit ist Cronenberg als Dr. Decker natürlich weiter an Körpern und Eingeweiden bzw. ihrer Zerschnetzlung interessiert. Die Entsorgung von Seelenmüll betreibt Dr. Decker nur zum Zweck der Tarnung. Seine Leidenschaft gilt der definitiven Beseitigung von menschlichem Abschaum, und die Welt ist voll von menschlichem Abschaum. Dr. Decker arbeitet hart an einer sauberen Welt. Er ist der Erretter der Welt, der den Missionierungseifer des Heilands besitzt und die erfolgreiche Umsetzungsstrategie der Kreuzzügler beherrscht. Wenn der Erlöser im eigenen Auftrag an seinem Konferenztisch sitzt, hat er im Geiste des letzten Abendmahls seine zwölf Jünger um sich gruppiert: lange, kurze, breite, schmale, gezackte, auf jeden Fall aber ziemlich scharfe Messer. Mit ihnen verrichtet Dr. Decker seine Mission.

Dr. Decker und seine Messer bestreiten die Splatterabteilung in Cabal. Für die Abteilung »Monster, Mythen, Mißgeburten« hat sich Clive Barker etwa 200 Kreaturen verschiedenster Monstrositäten basteln lassen. Werwölfe, Berserker, Höllenhunde, Fleischbrocken, Reptilienmenschen, Vampire, siamesische Zwillinge, Mutanten, Golems, Tiermenschen, Maschinenbestien — keiner gleicht dem anderen. Eine multimythologische Versammlung, die aus allen Kulturen zusammengeklaubt ist. Hieronymus Bosch hätte seine Freude dran gehabt. Bei aller aufgebotenen Scheußlichkeit gilt aber das Freaks-Frankenstein-King- Kong-E.T.-Prinzip: Sympathie für die Alptraumbrut. Von den Menschen verfolgt und ausgestoßen, haben sich die Stigmatisierten unter dem Friedhof eines nordamerikanischen Kaffs ihre eigene Stadt errichtet: Midian.

Das Bindeglied zwischen der Splattermonokultur des wahnsinnigen Messerstechers und der wimmelnden Artenvielfalt der Unterwelt stellt ein frischer Untoter dar: Boone, ein Patient Dr. Deckers, der glaubt, ein Serienmörder zu sein, und nach Midian flieht. Was folgt, ist die unausweichliche Kollision von Ordnungsfanatismus mit der anarchischen Höllenbrut. Ein faschistischer Cop mit deutschem Namen (Eigerman), der Spezialist für Abschaumbeseitigung Dr. Decker (klingt auch ziemlich deutsch) und Dutzende von Rednecks machen sich auf den Weg, um die Entarteten aufzumischen.

Barker (Regisseur von Hellraiser) hat mit Cabal · Die Brut der Nacht den endgültigen Mythologie- Hip-Hop-Remix in der »long version« vorgelegt. Er läßt von altbabylonischen Legenden über nordische Sagenwelt bis hin zu neuzeitlicher Filmmythologie so gut wie nichts aus. Menschen, die mit einem Biß ins Fleisch für die Unterwelt gewonnen werden. Sonnenlicht, das die Untoten vernichtet. Wandmalereien und Prophezeiungen, die den Erlöser verkünden. Ein Gesicht, das in einem Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Anfall zur Fratze mutiert. Aufnahmeriten, vollzogen vom Hohepriester der Unterwelt. Brodelnde, dampfende, ätzende Säure, die als Taufwasser geweiht ist. Kabbalistische Graffiti. Die Flucht als Arche-Noah-Prinzip. Die Geliebte, die dem Geliebten in die Unterwelt folgt, um ihn zu retten (Orpheus und Eurydike umgekehrt). Das Feuerorakel in der tiefsten Etage. Ein vom Mondlicht überfluteter Friedhof als Ort des Lebens. Der weise alte Mann als Führer der geschundenen Kreaturen. Die Geschichte von Vertreibung, Exodus und Neuansiedlung. Die lynchwütige Masse, die gröhlend loszieht, das Fremde auszurotten. Der kniende Priester vor einem brennenden Kreuz. Die alles vernichtende Apokalypse mit Feuer und Erdbeben. Der Tag danach mit den wenigen Überlebenden, die aufbrechen in ein neues Land.

Barker zieht das ganze Programm durch, um am Ende unter einem sternenklaren Himmel in einer Scheune voller Stroh zu landen, aus der die Monster, Mißgeburten und Mutanten froh zur Kamera hinüberwinken. Weihnachten liegt in der Luft. Barkers Freak- und Splatterrausch ist das erste überzeugende Plädoyer für eine multikulturelle Gesellschaft. Dralle

Cabal · Die Brut der Nacht (Nightbreed), USA 1990, 99 Minuten; Regie: Clive Barker; Darsteller: Craig Sheffes, Anne Bobby, David Cronenberg. Zu sehen am Ku'damm und im Sputnik Südstern (OF). Das Buch Cabal von Clive Barker ist im Heyne-Verlag erschienen.