Freie Einreise für alle Flüchtlinge

■ betr.: "Die Schutzflehenden " (Künstler für freie Einreise für sowjetische Juden), 5.10.90

betr.: „Die Schutzflehenden“ (Künstler für freie Einreise für sowjetische Juden), taz vom 5.10.90

Auf die Weigerung der BRD-Regierung, den vor dem Antisemitismus in der UdSSR fliehenden Juden den Aufenthalt im Lande zu gestatten, reagieren einige „Theaterleute deutscher Sprache“ mit einer erschreckenden Argumentation. Sie stellen anfangs durchaus richtig fest, daß der neue deutsche Staat nun denjenigen Hilfe verweigert, „die der alte Staat vor 50 Jahren mit Lebensvernichtung überfiel“.

Doch anstatt daraus die Forderung nach allgemeiner Aufnahme und Unterstützung der jüdischen Flüchtlinge zu folgern, argumentieren sie mit dem Nutzen, der dem deutschen Theater bisher aus der Mitarbeit von Juden aus Osteuropa erwachsen sei, nämlich „durch Schauspieler wie..., Operndirektoren wie..., Regisseuren wie...“. Solche Kräfte sollen auch weiterhin ins Land kommen dürfen. Es wartet nämlich eine wichtige Aufgabe auf sie: „...Die Beschränktheiten, Gefährdungen beider deutscher Gesellschaften, ... auflösen statt addieren“.

Hier stellt sich die Frage: Was ist, wenn die russischen Juden diese Aufgabe nicht lösen können beziehungsweise nicht wollen? Wenn sie der Meinung sein sollten, das Auflösen der Beschränktheiten der Deutschen und der Gefährdungen durch sie sei Aufgabe dieser selbst? Jedenfalls sei es angesichts der deutschen Geschichte Juden nicht mehr zuzumuten, den Deutschen den von ihnen produzierten Dreck wegzuräumen.

Und was ist mit denjenigen, die nicht in der Lage sind, sich in solch exponierte Positionen im deutschen Theaterbetrieb zu begeben? [...] Solche Emigranten, wahrscheinlich die Mehrheit, möchte man offenbar nicht.

Sicher ist der Aufruf dieser Theaterleute irgendwie „gut gemeint“. Er kann sich aber von einem verhängnisvollen deutschen Denken nicht trennen. Einem Denken, das selbst in der Solidarität mit Verfolgten nationalen Nützlichkeitserwägungen anhängt („...im Namen der Würde und des Gedeihens dieses Landes“), die ihren bestialischen Höhepunkt in dem Wort „Selektion“ gefunden haben. Klaus Wehmeier, Berlin 41

[...] Ich unterstütze ausdrücklich das Ansinnen der genannten Künstler. In der Tat gebietet es das letzte bißchen Würde, welches unsere Republik noch hat, auch und besonders im Hinblick auf unsere gesamtdeutsche Vergangenheit, osteuropäischen Juden Zuflucht in Deutschland zu bieten.

Im Gegensatz zu den Unterzeichnern des Appells bin ich mir allerdings sicher, daß sie in jedem Fall unsere Kultur bereichern, wie übrigens alle Flüchtlinge; dazu bedurfte es nicht des Hinweises auf Mahler und Klemperer.

Diese als Begründung für den Appell heranzuziehen, verbunden mit der stillschweigenden Hoffnung, die osteuropäischen Juden könnten nun den Kulturreichtum wiederherstellen, der im Nationalsozialismus unwiederbringlich zerstört wurde, halte ich für ähnlich makaber wie die so oft verwendete Argumentation: „Behandelt ,unsere‘ Türken gut, irgendwer muß ja den Müll wegräumen.“ Flüchtlingspolitik darf nicht unter ökonomischen Gesichtspunkten entwickelt werden, auch nicht unter kulturökonomischen!

Ebenso wie die europäischen Juden waren auch die europäischen Sinti und Roma Opfer nationalsozialistischen Rassenwahns. Daher muß auch für Roma-Flüchtlinge aus Osteuropa unsere Verantwortung für die Vergangenheit gelten. [...] Ich finde die Forderung nach freier Einreise richtig; doch sie muß für Juden, Roma und alle anderen Flüchtlinge im Rahmen einer großzügigen Einwanderungspolitik gelten, unabhängig davon, ob sie nun für die Kultur oder die Schwerindustrie von besonderem Nutzen sind.

Wenn wir ihnen bei uns menschenwürdige Bedingungen bieten, werden wir feststellen, daß wir alle wechselseitig davon profitieren. [...] Thomas Bischofs, Köln