„Das ist Erpressung“

■ FIFA-Schiri und Psychologe Siegfried Kirschen („Schweinchen") über den öffentlichen Druck INTERVIEW

Wochenende für Wochenende stehen 500.000 Schiedsrichter auf den Fußballplätzen der Welt — und tags drauf in den Schlagzeilen der Presse. So auch der Frankfurter Psychologe Siegfried Kirschen, der bei der WM in Italien als FIFA-Referee eingesetzt wurde. Unfreiwillige Pressefurore machte der schwarze Mann vergangenes Wochenende: Er ist derjenige, den ein enthemmter Jimmy Hartwig, Trainer von Sachsen Leipzig, nach dem wegen Fanrandale abgebrochenen Oberligaspiel gegen Jena als „kleines Schweinchen“ tituliert hat. Kurz zuvor sprach die taz mit Kirschen über den Druck, den Schiris durch die Medien allwöchendlich ausgesetzt sind.

taz: Seit der WM stehen die Schiris wieder im Mittelpunkt der Kritik. Ob in Bundes- oder Oberliga, keiner ist mit ihnen zufrieden. In welcher psychologischen Situation befinden sie sich?

Siegfried Kirschen: Der wohl größte Belastungsfaktor ist die Berichterstattung. Immerhin bestimmen die Medien die öffentliche Meinung über uns. Noch Tage nach dem Spiel werden wir auf der Straße wegen Entscheidungen angemacht. Da kommt Dauerstreß auf, es bleibt keine Ruhe für die Vorbereitung auf das nächste Match.

Können Sie ein Beispiel für diesen inneren Konflikt geben?

Ein Spiel der DDR-Oberliga: Drei Minuten vor Spielschluß entscheidet der Linienrichter nach einem Tor der Gastgeber richtig auf abseits. Daraufhin wird er von den Spielern, Zuschauern und sogar Ordner bedrängt, beworfen und beschimpft. Zwei Minuten später fällt wieder ein Tor für die Gastgeber. Wieder Abseit. Doch die Fahne des Linienrichters blieb unten. Dannach befragt, sagte er: „Ich sah das Abseits, wollte die Fahne auch heben, aber der Arm ging nicht hoch.“ Die Begründung liegt eindeutig im psychologischen Bereich. Das war eine Handlungsblockierung, weil vorher Erlebtes noch nicht verarbeitet war.

Was soll ein Journalist tun, wenn der Schiri einen Fehler gemacht hat — soll er den Mund halten, damit der Druck nicht zu groß wird?

Keineswegs. Es geht um mehr Verständnis. Statt Emotionen zu schüren, sollte sachbezogen und möglichst objektiv berichtet werden.

Aber es ist schwierig, mit Schiedsrichtern nach Spielende zu reden...

Tatsächlich wird es langsam Zeit, konservative Regelungen wie das Sprechverbot bis 30 Minuten nach Spielschluß zu verabschieden.

Eine weitere Chance, ungerechtfertigten Kritiken zu begegnen, wäre die Veröffentlichung der Noten der Spielbeobachter.

Bin ich völlig einverstanden. Warum sollen sie anonym bleiben? Bis vor kurzem erfuhren noch nicht einmal wir Referees unsere Noten. Öffentlichkeit täte da gut. Beispielsweise bei der WM in Italien: Da hatte ein Schiri gut gepfiffen, bekam Lob und sollte erneut eingesetzt werden. Doch die Medienkritik tags drauf war verheerend. Daraufhin zog die FIFA seinen zweiten Einsatz zurück. Das ist Erpressung. Und es ist ein offenes Geheimnis, daß einige Beobachter ihre Noten erst nach der Morgenlektüre festlegen.

In der Oberliga hat mit Herrn Umbach der erste Bundesliga- Schiedsrichter gepfiffen. Doch das Motto „Alles, was aus dem Westen kommt, ist besser“ hat hier nicht funktioniert.

Funktionäre in der DDR dachten, die besonders brisanten Spiele in der Oberliga müßten nun von West- Schiedsrichtern geleitet werden. So gab es diesen Austausch beim Spiel Chemnitz gegen Dresden. Aber der westliche Kollege hat eben nicht besser und nicht schlechter geleitet als wir. Und es sind ihm Fehler unterlaufen. Die müssen genauso einkalkuliert werden wie die Fehler der Spieler.

Ist Ihnen in ihrer Laufbahn als Fußballschiedsrichter schon einmal passiert, daß sich ein Journalist bei Ihnen entschuldigt hat?

Nein, noch nie. Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern. Interview: Hagen Boßdorf