Abschied vom Transitgefühl

Mit der liebgewonnenen Monotonie ist es ein für allemal vorbei/ Budenzauber auf den Parkplätzen, Raser auf der linken Spur/ Tempo100 ist auf kaltem Wege abgeschafft/ Wo bleibt der Denkmalschutz für die Ikonen der Transitkultur?  ■ 

Von Thomas Worm

Steil zum „Fuck off“ aufgerichtet, zieht der Mittelfinger samt 1200er Honda am Seitenfenster vorbei. Dann gibt der Drängler in der Tempo-80-Zone seinem Bock die Sporen und gast mit 150 gen Horizont. Einstimmung auf viel Reichsautobahnbeton zwischen Babelsberg und Wartha. Von den altvertrauten Transitgefühlen, die das Westberliner Gemüt bis nach Wessiland begleiteten, unterwegs auf den Fahrspuren rot-preußischer Reglementierung — von diesen Gefühlen ist wohl nur ein Loch geblieben. Vergleichbar jenem runden Nichts, das jetzt anstelle des DDR-Emblems im weißen „Wappenturm“ hinter dem Übergang Dreilinden thront. Rüber kommt man ja inzwischen ohne zu warten, ohne das Ritual der abgleichenden Blicke, die zwischen Personalausweis und Gesicht hin- und herwanderten. Die ungeduldige Lenkradtrommelei beginnt jetzt erst an den Baustellen bei Leipzig, wo die Staus statt Staatskontrolle Selbstkontrolle abverlangen. Vorgeschmack auf die Arteriosklerose der automobilen Gesellschaft des Westens.

Geschmacklich bereichert indes hat sich die Transitzone von einst durch den Budenzauber einer neuen Eßkultur. Das krakelige Wort „Imbiß“, oft in die Parkplatzschilder geschrieben, kündigt sie an: die Beköstigungsimprovisateure. Sie sind die orginären Erben der DDR-Zivilisation. Die Wurst hat die Vorstellungskräfte entzündet. Die Vehikel beweisens. Da gibt es das elfenbeinfarbene Zweiradwägelchen im 50er-Jahre- Stil oder der wacklige Campingwohnanhänger; einladend auch der Zeltpavillion mit Plastikfenstern in Rokkokomanier. Vor dem aufgebockten Lieferauto beißen der IFA- Trucker und der studiobraune Daimler-Yuppie gleichermaßen heißhungrig in ihre Rostbratwurst. Wurde hier, jenseits der Fahrbahnmarkierung, eine klassenüberwindende Utopie gestiftet?

„Die meisten stehen dort schwarz“, erzählt ein Budenbesitzer und schüttet dabei die Pommes aus dem Mikrowellenherd in einen 0,2-Liter-Plastikbecher. Als dieses Jahr seine Gäste weggeblieben seien, habe er sich als Gastronom um eine Konzession an der Autobahn bemüht. Zwar gibt es vereinzelt Kontrollen, aber die meisten Anbieter bleiben unbehelligt. Der Transit der Behörden in die BRD-Gesellschaft hat etlichen Wurstbratern am Autobahnrand einen kurzen Sommer der Anarchie beschert.

Transit — Synonym für Monotonie und die reduzierte Optik eines werbefreien Felder-und-Wälder- Wechsels. Neuartiger Augenschmaus ist jetzt geboten: das strahlende Dreieck einer DEA-Tankstelle oder das Großflächenplakat für eine edel gestylte Metalliclimousine.

Das Transitgefühl verliert sich. Bis auf das unerbittliche gleichwohl urvertraute Bollern beim Überfahren der Asphaltverfugungen und — der Leuchturm des Realsozialismus an der Elbe, der von weitem anpreist: Plaste und Elaste aus Schkopau. Denkmalschutz für diese rechteckige Ikone des Transitfeelings!

Und ansonsten? Es irritieren die frisch gemalten Tempo-100-Schilder. Noch nie waren sie so überflüssig wie heute. Das macht sich nicht erst bemerkbar, wenn ostdeutsche Klassenaufsteiger beim Laster überholen, einen via Lichthupe aus der linken Fahrspur drücken wollen oder Fünf-Liter-Maschinen (West) mal eben das Tempolimit verdoppeln. Gespenstisch wirkt vor allem jener Polizei-Lada, der rechts nach Vorschrift fährt, während links die Bleifüße unbekümmert ihren Stiefel durchtreten. Früher löste jedwede Ortung von Vopo-Wagen ein schneidendes Empfinden in der Herzgegend aus. Man mußte gefaßt sein auf willkürliche Spitzfindigkeiten, die zu Ordnungsgeldern führten. Zittrige Juckelpartie auf mies ausgeschilderten Strecken, wo überall Radarfallen lauerten.

Mittlerweile ist die Chance, ein Unfallauto als Verletzter, Krüppel oder Toter zu verlassen in der Ex- DDR doppelt so hoch wie im Westen. Warum also bremsen die einstmals strengen ostdeutschen Sheriffs nicht den Hochgeschwindigkeitskult? „Uns sind die Hände gebunden“, gibt Polizeibeamter Ehlers von der Autobahnpolizei Potsdam zu, „aufgrund von Verfahrensfragen.“ Polizeistreifen dürfen nur noch lächerliche 20 DM Ordnungsgeld abkassieren, für pekuniär empfindlichere Bußgeldverfahren fehlen die zuständigen Verwaltungsbehörden.

Den gesamtdeutschen Zimmermännern ist es somit gelungen, das Tempo100 auszuhebeln. Die rigide Beschaulichkeit, der sich Transitreisende zu unterwerfen hatten, ist endgültig dahin. Aber Vorsicht beim Sinnieren, im Rückspiegel „dröhnt“ schon die nächste Lichthupe.