Ein Jahr danach: „Aus der Traum“

Wehmut bestimmte die Begegnung der Revolutionäre der DDR bei ihrem Treffen ein Jahr danach in der Ostberliner Gethsemanekirche/ Verpaßte Chancen und verlorene Illusionen  ■ Von Anja Baum

Berlin (taz) — Die Gehtsemanekirche im Prenzlauer Berg, Ausgangspunkt des Protestes und hoffnungsvollen Aufbruches der Bürgerbewegungen im vergangenen Oktober, ein Jahr danach: Keine Spur mehr von Aufbruch, keine Spur mehr von Aktion. Die wenigen Kerzen vor der Kirche wirken verloren und wie ein Ritual vergangener Zeiten. Die Spannung des vergangenen Herbstes ist abgelöst durch eine wehmütige Traurigkeit. Man schlendert ins Gotteshaus wie zu einem Orgelkonzert. „Aus der Traum.“

Unter diesem Motto riefen die Mitarbeiter des Berliner Kontakttelefons vorgestern zur Erinnerung an die Zeit vor einem Jahr in des Gotteshaus. „Viele sind verbittert und enttäuscht darüber, wohin die Entwicklung gegangen ist. Aber wir dürfen unsere Hoffnung nicht verlieren“, begrüßte Pfarrer Widrat die vor allem jungen Leute.

Doch vor der Hoffnung — worauf, wurde an diesem Abend kaum ausgesprochen — kam die Erinnerung. Die Ereignisse des vergangenen Herbstes von den ersten Demonstrationen bis zur ersten Sitzung des unabhängigen Untersuchungsausschusses werden chronologisch aufgelistet. Die Briefe von Schabowski, damals verantwortlich für den Einsatz der Sicherheitskräfte, an Honecker werden verlesen. Noch einmal ist das Tonband mit Schabowskis Rede in der Volkskammer zum Umgang mit dem brutalen Polizeieinsätzen am 7. und 8. Oktober letzten Jahres zu hören. Was damals Wut und Entsetzen auslöste, wird an manchen Stellen heute schon wieder belächelt. Am Ende der Liste steht der 9. November: die Öffnung der Mauer. Gab es danach kein Datum mehr, was erwähnenswert gewesen wäre? Begann an diesem Tag die Sprachlosigkeit der Bürgerbewegung? Was ist in dem Jahr passiert?

Der Pfarrer Hans-Peter Schneider wehrt sich gegen die Behauptung, die Bürgerbewegung sei vor einem Jahr entstanden. Viel länger schon arbeiteten die verschieden Friedens-, Öko- oder Frauengruppen meistens unter dem Dach der Kirche. Es sei natürlich ihr Ziel gewesen, daß Regime der SED und die Staatsicherheit zu beseitigen. Aber, das sei nur die halbe Wahrheit. Die themengebundene Arbeit in den einzelnen Gruppen war auch ein wesentlicher Punkt und die ginge heute weiter. Doch auch in den Berichten der einzelnen Gruppen war viel von Enttäuschung die Rede. Der Verlust von Illusionen überschattet ihre Arbeit des vergangenen Jahres.

Als Marianne Birthler vom Bündnis 90 ans Mikrofon tritt, hat sich die Kirche schon zur Hälfte geleert. Vielleicht will man an diesem Abend mehr als in den Erinnerungen schwelgen. Aber auch sie spricht, ohne sich dabei auszunehmen von der depressiven Verfassung der Leute, denen sie begegnet. „Vielleicht haben wir uns getäuscht über die Möglichkeiten, die wir hatten und sind deshalb jetzt enttäuscht. Es ist ein wenig so, als hätten wir Jahrzehnte in einem Haus gewohnt, und jetzt schließen wir die Haustür ab. In einem Haus ist man nicht immer glücklich, und wir waren es, weiß Gott, nicht. Aber es ist töricht, sich umzudrehen und zu klatschen, wenn dieses Haus abbrennt.“