piwik no script img

„Was hätten die denn machen sollen?“

In Arnsberg steht eine Familie wegen gemeinschaftlichen Totschlags vor Gericht/Das Opfer ist selbst ein Täter Jahrelang hatte der Vater die Tochter vergewaltigt und die ganze Familie tyrannisiert  ■ Von Bettina Markmeyer

Arnsberg (taz) — Die „menschliche Komponente“, erklärt ein Reporter des Kölner 'Express‘ auf die Frage einer Fernsehjournalistin am Abend in der regionalen Nachrichtensendung, die „menschliche Komponente“ habe ihn nach Arnsberg geführt, um über diesen Prozeß zu berichten. „Blutschande“ steht am nächsten Morgen in fetten Lettern auf der ersten Seite und: „Vater erschossen — da weinte sie vor Glück“. „Ich weiß nicht“, sagt die Wirtin einer kleinen Pension im sauerländischen Breitenbruch, wenige Kilometer oberhalb von Arnsberg, während die Bilder vom morgendlichen Prozeßbeginn über den Bildschirm gehen. „Was der dem Mädchen angetan hat. Als er sie geschwängert hat, hätten die ihn schon erschlagen müssen!“ Sie erschrickt und hält sich die Hand vor den Mund: „Ich sag' das einfach so. Aber was hätten die denn machen sollen?“ Drei Männer, auf einer Baustelle in der Nähe auf Montage, sitzen dabei und sagen nichts.

Es war dieselbe Nachrichtensendung, das tägliche 'Hier und Heute‘ aus Nordrhein-Westfalen, die Manuela Bolz, ihrem Mann Marco und Waltraut Tröger am Abend des 22. Januar dieses Jahres Gewißheit verschaffte. Ulrich Tröger war tot. Niedergestreckt mit 14 Schüssen vor dem Gefängnis in Werl, gestorben noch am Tatort, auch sein Kopf war zertrümmert.

„Ich wußte nicht, ob er wirklich tot war“

Von ihrem Haus im niederländischen Kerkrade aus waren die drei in der Nacht vor Trögers Entlassung nach Werl gefahren. Mutter und Tochter identifizierten den Mann vor dem Gefängnis und fuhren weg. Marco Bolz blieb, ging mit einem Gewehr hinter seinem Rücken auf Tröger zu, als dieser die Telefonzelle vor dem Knast verließ. Sie standen sich gegenüber, Bolz schoß mehrfach auf Kopf und Bauch und schlug, als der am Boden Liegende sich noch bewegte, mit dem Gewehrkolben auf dessen Kopf. Dann fuhr er nach Kerkrade zurück.

„Ich wußte nicht, ob er wirklich tot war. Wir haben zu Hause gewartet und immer die Nachrichten gehört. In ,Hier und Heute‘ kam es dann. ... Dann wollten wir nach Aachen ins Polizeipräsidium. Ich wollte mich stellen, weil ich nun wußte, daß der Schwiegervater tot ist — und — weil ich dazu stehe.“ Auf dem Weg nach Aachen nahm die holländische Polizei die drei an der Grenze fest. Seither sitzen sie wegen gemeinschaftlichen Totschlags in Untersuchungshaft. Am Dienstag begann vor der zweiten großen Strafkammer des Arnsberger Landgerichts ihr Prozeß.

Ein Prozeß, in dem es keine zwei Seiten gibt. Es gibt nicht die trauernden Hinterbliebenen eines Opfers hier und den Täter dort. Die TäterInnen sind eine Familie: die Familie des Opfers. Zuallererst jedoch die Familie eines Täters. Die „menschliche Komponente“, das waren jahrelange, unmenschliche Qualen, die Ulrich Tröger seinen Angehörigen zugefügt hatte. Erst mit den Schüssen vor dem Werler Gefängnis vermochten die Opfer sie zu beenden. Noch aus dem Knast hatte Tröger gedroht, er wolle „Manuela plattmachen“, wenn er rauskomme.

Zwölf Jahre war Manuela Bolz alt, „als das mit den Vergewaltigungen anfing“. Ihr Vater vergewaltigte sie, bis sie 17 war. In ihrer Pubertät trug sie das Kind aus, das der Vater gezeugt hatte. Es war zwei Jahre alt, als Manuela sich eines Nachts zum ersten Mal mit aller Kraft gegen den gewalttätigen Vater wehrte und aus der Wohnung floh: zu Marco Bolz, den sie wenige Monate zuvor — während ihr Väter wegen diverser Diebstähle in Haft war — kennengelernt hatte. „Es war ein ganz normales Kennenlernen“, berichtet Marco Bolz, inzwischen sieben Jahre mit Manuela verheiratet, „bis Manuela anfing davon zu reden, daß es Probleme geben würde, wenn ihr Vater aus dem Gefängnis käme.“ Ulrich Tröger wurde entlassen, zwang Manuela und ihren Bruder Andreas, die sich bei Marco und dessen Vater verkrochen hatten, mit ihm in die Wohnung zurückzukehren, prügelte und vergewaltigte weiter. Seine Ex- Frau, Waltraud Tröger, paralysiert vor Angst, bestieg einen Zug nach Jugoslawien. Zweimal hatte sie Ulrich Tröger geheiratet: mit 17, weil sie schwanger war und ihre Eltern sie zwangen, mit 30 „für die Kinder“ und weil Ulrich Tröger sie zwang. Geboren und großgezogen hat sie die Kinder allein, während Tröger immer wieder im Gefängnis saß. Seit sechs Jahren ist sie wieder geschieden. War ihr Mann frei, spürte er sie überall auf, bedrohte sie mit dem Messer, schnitt ihr die Hare ab, nahm ihr die Kleidung weg, kommandierte die Kinder und schlug und schlug.

„Angst“ ist das häufigste Wort im Prozeß

„Ich war immer auf der Flucht“, erzählt Waltraud Tröger, gewohnt hat sie in Frauenhäusern, geschlafen bei Freundinnen oder in irgendwelchen Kellern. Geschlagen hatte Tröger sie „von Anfang an“, am Anfang „liebte ich den Mann“ — all die Jahre verbrachte sie „in panischer Angst“.

„Angst“ ist das häufigste Wort im Arnsberger Prozeß. Angst ließ Manuela zunächst verstummen, als sie vor Gericht gegen ihren Vater aussagen sollte. Doch dann redete sie. Angst hatte sie jahrelang gehindert, ihn anzuzeigen. Auch die Angst davor, daß ihr niemand glauben würde. Angst machte es ihrer Mutter unmöglich, sich selbst und die Kinder vor Tröger zu schützen. Aber auch dies: „Hätte ich alles den Behörden erzählt, hätten die gesagt, die Frau gehört in die Klapse.“ „Als er aus der Telefonzelle kam, hatte ich erst Mitleid mit ihm“, sagte Marco Bolz nach der Tat bei der Kripo aus. Doch dann siegte auch bei ihm die Angst. „Ich hatte viel zu verlieren, meine Frau und meine Kinder“. Er schoß: „Ich hatte keinen Haß auf den Uli, ich hatte nur Angst.“

Warum nicht mit dem Vater reden?

Der Vater als Täter. Ein Leben in Panik, das die drei Angeklagten im Gerichtssaal in präzise, oft geradezu beherrscht knappe Schilderungen fassen. Wie real die Bedrohung für sie war, wird dennoch nicht verstanden. Der Vorsitzende Richter in Arnsberg, Ewald Franzmann — nur Männer richten, begutachten und verteidigen in diesem Prozeß —, fragt Manuela Bolz, wieso sie nicht versucht habe, mit dem Vater im Knast zu reden? „Ich hatte Angst, der dreht mir den Hals zu.“ Verständnislosigkeit beim Richter: „Aber im Gefängnis doch nicht!“ Er habe sie schon früher einmal bei einem Besuch im Knast bedroht, antwortet Manuela. Die Frau, so will es der über sie richtende Mann, soll mit ihrem Vergewaltiger, Schwängerer, Demütiger, mit dem Schläger reden, der ihr Leben zerstört hat.

Um andere Lösungen zu finden, meint der Richter, als Tröger umzubringen. Sie haben, beteuern Marco und Manuela am ersten Prozeßtag, sie haben es versucht. Wollten auswandern, wollten Polizeibewachung, sicherten ihr Haus mit Stahlrollos, wollten sich Hunde anschaffen, besorgten eine Waffe. „Und was wäre gewesen, wenn ich auf Arbeit war, und der kommt?“, fragt Marco. „Und was, wenn er unser Kind aus dem Kindergarten geholt und es als Druckmittel benutzt hätte?“, fragt Manuela. Der Mann war gefährlich. „'Ich bestimme, wann euer Leben zuende ist‘, hat er gesagt“, schildert Waltraut Tröger eine Szene ihrer Ehe. Sie müsse mit ihrer Angst leben lernen, hatte die Psychologin Manuela geraten, die ihr behindertes Kind, dasjenige vom Vater, betreute.

Acht Jahre hatte Ulrich Tröger vor seinem Tod in Haft verbracht, sechs davon für die Vergewaltigungen seiner Tochter. Marcos Familie hatte Manuela 1982 geholfen, ihn endlich anzuzeigen. Der Prozeß war eine Tortour für sie, ihre Mutter verweigerte aus Angst vor ihrem Ex- Mann die Aussage.

Je näher der Entlassungstermin rückte, umso größer die Gefahr. Am Wochenende vor dem Termin besprach sich die Familie, die drei fuhren nach Wehr. Manuela wollte ihren Mann nicht allein lassen, die Mutter wollte ihre Kinder nicht allein lassen, Marco hatte das Gewehr. „Ich sah nur noch den einen Weg, dahin zu fahren und ihn zu töten“, sagt Marco dem Richter. „Ich hätte es auch getan, wenn ich den Mut gehabt hätte“, sagt Manuela. „Ich hätte es nicht gekonnt“, sagt ihre Mutter.

Die Zeitungen schreiben von Selbstjustiz, für die Angeklagten war es Notwehr, die Richter sprechen ihr Urteil Ende Oktober.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen