Von Schratts und noch mehr Wunderlichem

Andrej Sinjawskijs großes Werk über den russischen Volksglauben  ■ Von
Barbara Kerneck

Man erzählt, daß der Ljeschij (Schratt) in der Trabantenstadt X den Einwohnern einfach keine Ruhe läßt“, berichtet meine Moskauer Portiersfrau. „Wer bitte?“ „Na der Schratt“, wiederholt sie ungeduldig, als sei ich ein wenig schwerhörig. „Bevor Du Deinen neuen Vertrag abschließt, solltest Du ein paar Kerzen in der Y-Kirche aufstellen“, rät meine Freundin Oksana, „mehrere Bekannte haben mir bestätigt, daß das die wirksamste Kirche für Verträge ist!“ Oksana ist eine gebildete Philosophiedozentin, sie weiß nicht recht, was sie von den Hypnosesendungen des Wunderheilers Alan Tschumak halten soll, die im Sommer 1989 zum Frühstück im Fernsehen ausgestrahlt wurden oder von den Massenseancen des Anatolij Kaschpirowskij, die im Frühjahr dieses Jahres bis zu drei Viertel der 290 Millionen sowjetischer Fernsehzuschauer vor den Bildschirm lockten.

Die Moskauer sind in dieser Frage nicht nur untereinander gespalten, sondern jeder zweite auch in sich selbst. Mein Kollege Christian Schmidt-Häuer belauschte kürzlich folgendes Gespräch zwischen zwei Großmütterchen auf einer Bank vor einem Wohnsilo: „Ich habe gestern zehn Exemplare von 'Moskau am Abend‘ gekauft, die Ausgabe, die von Tschumak ,aufgeladen war‘“. Als ich ins Bett ging, habe ich mich ganz damit bedeckt. Aber die Wirkung blieb aus, im Gegenteil. Heute früh mußte ich einen Arzt rufen, weil mein Blutdruck in die Höhe ging. Eine Frau neben ihr unterbrach sie: „Aber den anderen hilft es. Meine Tochter glaubte nicht an Tschumak und machte sich sogar lustig, als ich mich im Sommer jeden Morgen vor den Fernseher setzte. Aber dann hat sie einmal eine Menge Erdbeeren gegessen und schrecklichen Hautausschlag bekommen. Da habe ich sie einfach mit der Kindercreme behandelt, die ich nach Tschumaks Rat bei seinen Sendungen vor den Bildschirm legte, um sie ,aufzuladen‘. Und am nächsten Morgen war die Haut von dem Ausschlag frei.“

Es sind bei weitem nicht nur die siebzig Jahre im alles bespitzelnden Sowjetstaat, die „die russische Seele“ im Unterschied zur westlichen geprägt haben. Allerdings haben die verwirrende Informationspolitik der jüngeren Vergangenheit und die Isolierung der Sowjetunion von der übrigen Welt durchaus ihren Anteil daran, daß sich auch im fünften Jahr der Perestroika für die Einwohner höchst wichtige Gerüchte über die müllbestreuten Ödlandhalden zwischen den Moskauer Trabantenstädten immer noch so verbreiten, wie einst von Dorf zu Dorf: nämlich mündlich.

Eben dieser mündlichen Erzählkultur, die über Jahrhunderte die einzig literarische Volkskultur in Rußland überhaupt war, gilt Andrej Sinjawskijs neuestes Buch: Iwan der Dumme · Vom russischen Volksglauben ist in diesen Tagen erschienen. Sinjawskij selbst versteht unter dem „Volksglauben“ die volkstümlichen Formen der Religiosität, in denen noch „andere und ältere Ideen und Möglichkeiten weiterleben“.

Von der historischen Analyse her am aufschlußreichsten ist der Teil des Buches, in dem Sinjawskij aufzeigt, wie im 17.Jahrhundert mit dem Kirchenschisma und der Herausbildung einer bürokratischen Staatskirche dieser „andere Glaube“ in Gestalt zahlreicher Sekten zum Nährboden der Opposition wurde. Schließlich entstand in der Auslegung des Volkes ein originäres, völlig selbständiges Modell der christlichen Religion. Von seinem vierteiligen Werk sind die beiden ersten Abschnitte dem Märchen sowie dem Heidentum und der Magie gewidmet, der dritte Teil der speziell russischen Auffassung von Heiligkeit und der vierte der Kirchenspaltung und den religiösen Sekten.

Die russischen Formalisten, Jurij Tynjanow und Viktor Schklowskij, haben Hauptgestalten und Motive der Märchen in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts bereits brillanter zergliedert. Aber noch niemand hat mit mehr Liebe den Alltagsbezug der Märchenvisionen hergestellt. Sinjawskij bietet eine Vielfalt von Beispielen, hält sich aber mit interkulturellen Verallgemeinerungen zurück: Gestalten wie den Lieblingshelden des russischen Märchens, den dummen Iwan, den Trägen, der immer bescheiden zurücksteckt und dann doch vom Glück auserwählt wird, habe es wohl bei allen Völkern gegeben, aber, so meint er vorsichtig: vielleicht bestand bei den Russen ein „besonderer Nährboden“ dafür. Iwan verkörpert noch eine konkrete Utopie: am Ende seines Weges kann er den Hochzeitstisch nicht nur für sich selbst und seine Freunde decken, sondern die ganze Welt dazu einladen mit ihm nach Herzenslust zu essen und zu trinken.

Der höchste Wert im Leben ist die Lichtnatur des Schönen, das goldene und rote Strahlen, Glänzen und Gleißen, diese Überzeugung verbindet das Märchen mit der russischen Religiosität und die Volkskunst der bunten Lackdosen mit dem Ikonostas in der Kirche. Sinjawskij gibt die Legende wieder, derzufolge sich die Russen um das Jahr 1000 das orthodoxe Christentum vor allem deshalb als Staatsreligion aussuchten, weil bei den Griechen „ihr Gottesdienst schöner ist als der aller anderen Lande. Diese Schönheit können wir nicht vergessen.“ Auch bei „den Deutschen“ begutachteten die ausgesandten Boten verschiedene Gottesdienste: „Aber Schönes sahen wir nicht.“

Vor dem Christentum gab es gewisse slawische Götter, die bei den Russen nicht allzu tiefe Spuren hinterließen. Sie verkörperten wohl eher Staatsreligionen im Gegensatz zur Vielfalt der Haus- und Hof-, Feld-, Wald- und Wiesendämonen, die noch heute im menschlichen Alltag gegenwärtig sind wie Hund und Katze. (Da gibt es zum Beispiel diese wunderbare Familienszene in Gontscharows Oblomow, in der die Hausfrau geduldig dem ungläubigen Hausherrn erklärt, was es bedeutet, wenn die Nasenspitze juckt, das Ohrläppchen zuckt, das rechte Knie schmerzt und das linke Auge tränt... Wenn die Nasenspitze juckt, das habe ich behalten, gibt es Gäste. d.S.) Oft habe ich mich gefragt, warum manche Frauen als „Kikimora“ bezeichnet werden. Nach dieser Lektüre weiß ich, daß es sich dabei um einen eigentlich konstruktiven, aber neurotisch hausarbeitssüchtigen, zwietrachtsäenden weiblichen Hausgeist handelt. Kikimoras Vorgesetzter ist der „Domowoj“, der Ahnendämon des Hauses, der über dem Ofen wacht. Er will den Familienmitgliedern wohl, streichelt sie nachts zärtlich mit einer pelzigen Pfote, versteckt aber wie ein kindischer Alter gerne Gegenstände, zum Beispiel Brillen. Naturgemäß haßt der Domowoj Ortswechsel und muß mit einem Schälchen süßem Brei oder bunten Stoffetzen bestochen und beschworen werden, bei etwaigen Umzügen mitzukommen.

Das Prinzip „eine Hand wäscht die andere“ und kleine Bestechungen regeln auch die Beziehung der Russen zu ihren Heiligen. Sinjawskij beschreibt wie spezifisch russische Heilige, wie Nikolaj und Ilja, entstehen konnten. Im russischen Volk war es unpopulär, den Weg zur Heiligkeit oder den kirchlichen Ritus spitzfindig zu analysieren. Man rezipierte das Ganze, wie das Märchen, als ästhetisches Gesamtkunstwerk mit fürsorglicher Liebe zum Detail. Nur deshalb konnte der Zwist zwischen dem Protopopen Awwakum und dem vom Zaren begünstigten Kirchenmodernisierer Nikon im 17.Jahrhundert zum endgültigen Bruch über der Frage ausarten, ob das Kreuz mit zwei oder drei Fingern zu schlagen sei. Awwakums Autobiographie ist eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse des alten Rußland. Daß er grausamste Torturen zu erleiden hatte und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, daß seine Anhänger, die „Altgläubigen“, über mehrere Generationen unnachsichtig vom Staat verfolgt und auch später immer wieder diskriminiert wurden, sicherte ihnen die Symphatien der Massen. Damals verlor die russische Volksreligiosität die Utopie von der Gerechtigkeit noch auf dieser Welt. An ihre Stelle trat das tiefe Mißtrauen gegenüber jeglicher Obrigkeit. Ein Leitsatz lautete sinngemäß: „Wo ein Richter ist, da wird auch Unrecht gesprochen“, diese Auffassung macht auch noch 1990 den sowjetischen Richtern zu schaffen — bei aller Rechtsreform nicht zu Unrecht.

Andrej Sinjawskij hat sich dem russischen Volksglauben als Literat genähert. 1965 war er wegen seines unter dem Pseudonym „Abram Terz“ im Westen erschienenen erzählerischen Werkes zusammen mit dem Dichter Julij Daniel verhaftet worden. Mit den Zeugen des russischen Volksglaubens wurde er im Straflager bekannt. Seit seiner Entlassung 1973 lebt er in Paris, wo er an der Sorbonne Professor für Slawistik ist. Sinjawskij hat sich innerhalb der russischen Emigration stets für eine gemäßigte, nicht fanatisch antisowjetische Linie eingesetzt. Als er 1989 zum Begräbnis Julij Daniels kurz nach Rußland zurückkehrte, wurde er in der russisch-nationalistischen Presse als „russophob“ beschimpft. Trotzdem: das vorliegende Buch ist Pflichtlektüre für alle, die die verborgenen neun Zehntel des „russischen Wesens“ nicht fürchten, sondern suchen, und alle, die wünschen, Rußland möge einst sich selbst und der Welt den Tisch decken. Ganz abgesehen davon findet man hier unschätzbare Tips für den alltäglichen Umgang mit Dämonen. Um noch einmal auf den anfangs erwähnten „Schratt“ zurückzukommen: Seinesgleichen sind es, die Wanderer auf Waldlichtungen verwirren. Falls „taz-LeserInnen“ oder Ernst Jandl wieder einmal „lechts und rinks velwechsern“, müssen sie sich bloß hinsetzen, alle Kleidungsstücke von der verkehrten Seite anziehen und den rechten Schuh über den linken Fuß ziehen. Danach findet sich der Weg ganz von alleine.

Andrej Sinjawskij: Iwan der Dumme — Vom russischen Volksglauben, S. Fischer Verlag, 432 Seiten, gebunden, 48 D-Mark.