KOMMENTAR
: Ein postkommunistisches Erbe?

■ Niedrige Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen wäre kein positives Zeichen

Vor einem Jahr war das Verlangen nach freien Wahlen, die diesen Namen verdienen, eine der Hauptforderungen der demokratischen Opposition. Bereits in den Monaten vor dem Herbst hatte sich das gesellschaftlichen Klima in der DDR nicht zuletzt deshalb verschlechtert, weil es den Bürgerrechtsgruppen gelungen war, die Fälschung der Kommunalwahlergebnisse vom Mai überzeugend zu dokumentieren. Die Perspektive damals: Wenn statt der entwürdigenden Prozedur des Zettelfaltens alle gesellschaftlichen Gruppen die Möglichkeit hätten, ihre KandidatInnen zu präsentieren, wenn allen das gleiche Recht eingeräumt werden würde, sich für die Angelegenheiten der Allgemeinheit verantwortlich zu fühlen, dann wäre auch mit dem faktischen Gottesgnadentum der alleinherrschenden Partei kein Staat mehr zu machen. Deshalb wurde für die nächsten DDR- Wahlen UNO-Kontrollen gefordert. Nun werden — von den Ostberliner Bezirken abgesehen — die Wählerinnen und Wähler bereits zum dritten Mal innerhalb eines halben Jahres an die Wahlurnen gerufen, diesmal um die Wiederherstellung der Länder durch die Bildung von Landtagen (und Landesregierungen) abzuschließen. Allein das Interesse der mündigen BürgerInnen an ihren künftigen Landesvätern (und -müttern) hält sich in Grenzen, obwohl sächsischer, mecklemburgischer und thüringischer Regionalpatriotismus fast die einzigen noch intakten gesellschaftsintegrierenden Kräfte darstellen. Aus der Sicht des vergangenen Jahres erscheint dies als Erfüllung einer Anti-Utopie: Stell dir vor, es ist ein richtiger Landtagswahlkampf und keiner geht hin.

Fragt sich nur, wer dem Zeitgeist diese Parole zuflüsterte. Oder ist die grassierende Politikmüdigkeit schon wieder nur den Verhältnissen geschuldet, diesmal den postkommunistischen? Einiges spricht dafür — in Polen beteiligten sich noch 42 Prozent an den Wahlen zur lokalen Selbstverwaltung, und in Ungarn mußten mangels Beteiligung in einigen Kreisen sogar Nachwahlen angesetzt werden. Nach aufreibenden Kämpfen gegen die Diktatur und jahrzehntelanger Entwöhnung von einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen scheint es, als seien kulturelle Gestaltungskraft und politischer Gestaltungswille in den ehemaligen kommunistischen Ländern erschöpft. Im politischen Vakuum gedeihen Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und andere soziale Pathologien. Die DDR macht da keine Ausnahme.

Nun läßt sich gewiß nicht am Grad der Zustimmung für ein gerade existierendes Parteienkartell verifizieren, wie demokratisch und zivil eine Gesellschaft ist. Nachdem aber viele Menschen die ersten freien Wahlen allzu wörtlich als Abgeben ihrer Stimme verstanden oder erfahren haben und jetzt — fälschlicherweise — davon überzeugt sind, es werde ohnehin alles in Bonn entschieden und zudem die demoskopischen Umfragen nur in Brandenburg ernsthafte Spekulationen über den Wahlausgang zulassen, wird die Wahlbeteiligung am kommenden Sonntag die eingentlich Interessante Ziffer sein. Enttäuschung und Entmutigung dürften sich vor allem in Wahlenthaltung niederschlagen. Die Bürgerbewegungen sollten daher — im Positiven wie im Negativen — diese Ziffer genauso ernst nehmen wie ihr eigenes hoffentlich gutes Ergebnis. Sie wird auch ein Indiz dafür sein, wie weit wir von der Realität der Res publica tatsächlich entfernt sind. Ludwig Mehlhorn

Der Autor ist Mitglied der Bürgerbewegung von „Demokratie Jetzt“ in Berlin.